Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin
Seit Oktober 2010 arbeiten wir (Christoph Doll vom Lehrerseminar, Sylvain Coiplet vom Institut für soziale Dreigliederung und viele andere) an der Gründung einer Freien Interkulturellen Waldorfschule in Berlin. Ein mittlerweile recht großer Kreis verfolgt unsere Arbeit mit wachsendem Interesse, und es gibt bereits die ersten Anmeldungen. Ich habe das Konzept geschrieben, indem ich versuchte, den gemeinsamen Geist und die in unzähligen Arbeitsstunden gewachsenen Ideen festzuhalten. Hier gibt es einen ersten Auszug, der vielleicht die Gedankenrichtung erahnen lässt, ohne allerdings die spannenden Details schon zu verraten ...
Aus dem Konzept der Freien Interkulturellen Waldorfschule Berlin
"Zwei Strömungen ringen gegenwärtig miteinander um eine Antwort auf die Frage nach der menschlichen Identität. Die eine ist rückwärts gewandt und rekonstruiert die Gruppenidentität vergangener Epochen. Sie fordert Nationalwirtschaft und nationale Vorrechte statt Weltwirtschaft und EU-Regierung. Dieser Strömung steht eine andere entgegen. Sie begreift die Globalisierung als Chance. Nicht in der politischen Einigung und nicht in der Weltwirtschaft sieht sie das Übel, sondern in der Tatsche, dass die Menschheit zwar wirtschaftlich und politisch, jedoch nicht auch kulturell zusammenwächst.
Wie kann der Einzelne auch seine geistige Identität in der Weltgemeinschaft finden, der er physisch bereits angehört? Was können Schule und Erziehung leisten, damit der Heranwachsende sich selbst nicht nur als Angehörigen einer Nation erlebt, sondern sich als Menschheitsrepräsentant fühlen und aus dieser globalen Perspektive heraus denken und handeln lernt?
Die multikulturelle Gesellschaft stellt den Menschen vor eine neue Herausforderung, für die zunächst niemand die richtige Antwort hat. Weil man sich über diesen Punkt täuscht, laufen „Integrationsdebatten“ häufig auf eine Forderung nach mehr Geld hinaus. Oder man nimmt reflexartig den Staat in die Pflicht. Der Staat müsse etwa die Rechte der Kinder von der Erfüllung gewisser Normen abhängig machen. Doch ist Zwang tatsächlich ein probates Mittel für die Völkerverständigung? Selbst die jüngste PISA-Studie verweist darauf, dass durch erschwerte Zulassungsbedingungen Migranten eher ausgeschlossen, als integriert werden.
Jede Verständigung beruht zuerst auf einer individuellen Anstrengung. Sie fordert den Willen des Individuums heraus, die Grenzen national geprägter Denkmuster zu überschreiten und sich auf das Neue einzulassen, das in der Begegnung zwischen den Angehörigen verschiedener Volksgruppen entstehen kann. Das friedliche Zusammenleben der Völker ist also zunächst eine rein geistige Frage, dann erst eine Frage des Geldes oder der Politik. Es bedarf auf der einen Seite der Möglichkeit, das eigene Denken in der Begegnung frei betätigen zu dürfen und produktiv um das jeweils konkret Verbindende ringen zu können. Auf der anderen Seite muss deshalb aber auch die Aufnahme einer fremden Sichtweise eine freiwillige sein, und das heisst, vom Individuum auch abgelehnt werden dürfen.
Nur derjenige Geist verbindet, der durch seine freie Anerkennung wirkliches Leben im Herzen des Einzelnen gewinnt. Zwang dagegen verhindert gerade diejenige tiefere Verbindung mit Kultur und Sprache, die für ein friedliches Zusammenleben von jedem Einzelnen immer mehr gefordert ist. Nicht Opferung der besonderen Kultur des Einzelnen zu Gunsten einer theoretischen Gemeinschaft der Werte, sondern das wirkliche Ausleben dieser Werte durch die freie Anerkennung des Anderen führt Menschen zusammen. Was dann „zwischen“ den verschiedenen Kulturen liegt, diese „übergreift“ oder „verbindet“, muss in der Begegnung der Kulturen täglich neu gesucht und gegriffen werden.
Die Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin will ihre Gemeinschaft deshalb weniger auf ein Bekenntnis zur Freiheit als auf das wirkliche Praktizieren der Freiheit gründen, das heisst: auf die gelebte Anerkennung und Förderung aller in ihr vertretenen Kulturen. Ihren Erfolg misst sie daran, wieweit es ihr gelingt, nicht nur formelle Bekenntnisse zu einheitlichen Normen abzufragen, sondern den Willen jedes einzelnen Schülers zu einer wirklichen Mitarbeit an einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft zu gewinnen. Sie ist also per Definition eine freie Schule: Was den Schüler dazu bewegt, ein Kulturgut mit Begeisterung und aus eigenem Antrieb wirklich besitzen zu wollen, bestimmt ihren Lehrplan.
Der Lehrer wird hier als Künstler verstanden - muss er doch für jedes Individuum dasjenige Mittel finden, was dessen Wille zur Mitarbeit hervorlocken kann. Deshalb soll in der Freien Interkulturellen Waldorfschule Berlin nicht nur der Schüler, sondern auch der Unterrichtende frei denken und handeln können. Er wird nicht als „Lehrkraft“ gesehen, dessen Aufgabe darin besteht, Vorgaben umzusetzen oder einen bestehenden Werte-Kanon zu vermitteln. Vielmehr soll er aktiv in den Entwicklungsprozess eines zeitgemäßen menschlichen Selbstverständnisses einbezogen bleiben, und in der jeweils konkreten Begegnung um eine situationsbezogene Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Interkulturellen ringen dürfen.
Die Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin macht ein Angebot, das der internationalen Bedeutung Berlins gerecht wird. Ob deutsch, türkisch, arabisch oder welcher „Hintergrund“ auch immer – In dieser Schule soll nach Möglichkeit jeder vertretene Kulturkreis nicht nur toleriert, sondern von den Angehörigen anderer Kulturkreise wahrgenommen, erkannt und wertgeschätzt werden. Die Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin heisst die jeweilige Muttersprache des Kindes deshalb ausdrücklich willkommen und fördert aktiv ihre weitere Ausbildung durch Unterrichtseinheiten in der jeweiligen Muttersprache, Begegnungssprache und Nachmittagskurse. So weit wie möglich bezieht sie auch die unterschiedlichen Traditionen, Musik und religiöse Feste in den Schulalltag mit ein.
So sollen sich alle Kinder auf Augenhöhe begegnen können – jeder wird das Erlebnis haben dürfen, dass ein anderer etwas besser versteht als er selbst. Und jeder wird einen Spielkamerad in dessen Kulturzusammenhang erleben und somit auch in diesem Kulturzusammenhang das Individuum verstehen lernen, mit dem er sich verbunden fühlt. So kann in den Angehörigen verschiedener Kulturkreise eine Empfindung entstehen für den allgemeinen, kulturübergreifenden Wert jedes Menschen. Freiheit im Ausleben der jeweils eigenen Kultur, zu der auch die Ausbildung der Muttersprache gehört, und Freiheit zum Gebrauch der eigenen Urteilskraft, und damit auch Freiheit zur Aufnahme oder Ablehnung einer Kulturgewohnheit, ist in der Berliner Schule das Mittel der Wahl, um die einmalige geistige Individualität jedes Menschen in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken.
Die Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin will auf diesem Weg auch dem berechtigten Interesse des Kindes an einer möglichst vollkommenen Beherrschung der deutschen Sprache gerecht werden. Nachweislich ist nämlich ein Abbruch in der Ausbildung der jeweiligen Muttersprache die schlechteste Voraussetzung für das Erlernen der deutschen Sprache. Neben dem Deutschunterricht fördert die Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin deshalb nach Möglichkeit die weitere Entwicklung der jeweiligen Muttersprache. Gleichzeitig verzichtet sie, so weit es der Gesetzgeber zulässt, im Deutschunterricht auf Notendruck oder andere Mittel der Ausgrenzung und sucht stattdessen durch bewusste Wahl der Lehrer, kindgemäße Themen, Bezug der Sprache zum praktischen Lebensumfeld und durch kreativen Sprachgebrauch die ehrliche Begeisterung des Kindes für die deutsche Sprache zu wecken.
Die Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin steht jedoch nicht nur allen Kulturen, sondern auch allen Gesellschaftsschichten offen. Sie erzieht das wirtschaftlich benachteiligte Kind in einer Klasse mit dem begünstigten, das „bildungsferne“ mit dem „bildungsbürgerlichen“, und ermöglicht so den Angehörigen beider Schichten, den individuellen Menschen ungeachtet seiner sozialen Stellung achten zu lernen. Die Lehrer begnügen sich dabei nicht mit einer prinzipiellen Offenheit, sondern gehen auf die Menschen zu und machen ihnen ein Angebot. Wer mehr hat, wird mehr, wer wenig hat, entsprechend weniger beizutragen haben. Für Eltern, deren Einkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt, bleibt der Schulbesuch ihrer Kinder kostenlos.
Die Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin begreift sich als Einrichtung eines freien Geisteslebens. Sie wehrt sich aktiv gegen jede Vereinnahmung durch Parteien, Kulturvereine oder Wirtschaftsverbände, ganz gleich, welcher Ausrichtung. Niemals sollen Lehrinhalt und Lehrmethode durch Tagespolitik, Ideologien oder kurzfristige Wirtschaftsinteressen definiert werden. Vielmehr machen die Lehrer der Freien Interkulturellen Waldorfschule Berlin die individuellen Fähigkeiten eines jeden ihr anvertrauten Kindes, den Anforderungen seines konkreten Lebensumfeldes zu begegnen, zum Masstab ihrer Arbeit. Lehrinhalt und Lehrmethode sollen immer einerseits dem konkreten Kind, andererseits den aktuell gegebenen Zeit- und Lebensverhältnissen angemessen sein. Die Lehrer entwickeln Inhalt und Methode ihres Unterrichts deshalb anhand der Beobachtung des jeweiligen Kindes und im freien Austausch mit anderen praktizierenden Pädagogen. Nicht das Ausruhen auf Standards, sondern das Wahrnehmen und Anerkennen der Erfahrungsurteile innerhalb eines freien, schulübergreifenden Dialogs zwischen praktizierenden Pädagogen soll dauerhaft die Qualität der Freien Interkulturellen Waldorfschule Berlin sichern.
Die Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin leugnet gleichwohl nicht die Tatsache, dass sie abhängig ist von der wirtschaftlichen Leistung ihres Umfelds. Selbstverständlich strebt sie also nicht Unabhängigkeit, sondern Freiheit an. Sie möchte für ihre Freiheit gerade das Verständnis der Menschen gewinnen, von denen sie als gemeinnützige Einrichtung abhängig ist. Darauf konzentriert sich ihre Öffentlichkeitsarbeit. Sie kann nämlich selbst real nur in dem Maß frei sein, in dem sie sich ihrerseits auf die freie Anerkennung der Menschen gründet, welche die Schule wirtschaftlich tragen. Deshalb will sie die für den eignen Betrieb nötigen Mittel so wenig wie möglich aus dem allgemeinen Steueraufkommen, und so weit wie möglich aus der freien Zuwendung von Einzelpersonen ziehen. Mit jeder freiwilligen Zahlung verbindet sich nämlich ein menschlicher Wille, der diese konkrete Schule in ihrer Freiheitsgestalt auch meint. So soll sich um die Interkulturelle Waldorfschule Berlin ein „geistiger Umraum“ bilden, der sie einerseits finanziell und moralisch trägt, andererseits aber auch die kritische Reflexion der eigenen Arbeit ermöglicht und eine Weiterentwicklung permanent herausfordert.
Um das für ihre freie Arbeit nötige Verständnis zu gewinnen, trägt die Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin die Diskussion über pädagogische Fragen über die Schulmauern hinaus, und beteiligt sich umgekehrt an öffentlichen Gesprächen über allgemein menschliche und soziale Fragen. Gleichzeitig erhofft sie sich von einer engen Anbindung an ihr wirtschaftliches und kulturelles Umfeld eine Wahrnehmung der Qualifizierung ihrer Schüler und die Möglichkeit, ihre Schüler bis in den späteren Beruf hinein zu begleiten und so eine maximale Sicherheit über einen Ausbildungsplatz zu gewährleisten."
Wir suchen noch Lehrer, Mitwirkende und Begeisterte - bei Interesse schreiben Sie bitte an:
Johannes Mosmann: institut@dreigliederung.de
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