Das Geheimnis des Zwischenraums – Für die Jugendsektion des Goetheanums

Durch Arbeit und Konsum ist heute jeder Mensch auf dieser Erde unsichtbar an den anderen geknüpft. Von der Gestalt dessen, was sich dabei zwischen den Menschen bildet, hängt unmittelbar die Existenz des Individuums ab. Gegenwärtig liegt jener Zwischenraum jedoch vollständig außerhalb unseres Bewusstseins, und bildet sich ohne unser willentliches Zutun. Was also verbindet Individuen zu einer Weltwirtschaft? Und wie können wir darin aufwachen und dem Zwischenraum von innen heraus die Richtung unseres Wollens geben, anstatt ihm weiterhin erfolglos von Außen einen "Rahmen" zu setzen? Gegenüber der herrschenden Ideologie einer "unsichtbaren Hand", die vom Staat "geregelt" werden könne, soll hier ein praktischer Weg aufgezeigt werden, wie der Mensch das "unsichtbare" sichtbar machen, und die Wirtschaft von ihrem Quell aus gestalten kann. Vortrag vom 17.02.2013 anlässlich der Februartagung der Jugendsektion am Goetheanum.

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Sehr verehrte Anwesende,

Ich darf Ihnen vielleicht zuerst sagen, dass es mir eine außerordentliche Freude ist, zur Jugendsektion des Goetheanums ausgerechnet zu diesem Thema sprechen zu dürfen. Ich selbst befasse mich nämlich selbst seit vielen Jahren mit der Frage: was verbindet Individuen zu einer Gemeinschaft? Was lebt im Zwischenraum von Mensch zu Mensch? Wovon ist es abhängig, und wie lässt es sich so gestalten, dass der Mensch auch darinnen sein kann, in seiner vollen Menschenwürde? Und - in welchen Punkten kann der Einzelne diesen Raum ergreifen? Das mache ich nun seit etwa 6 Jahren am Institut für soziale Dreigliederung in Berlin.

Aber eigentlich interessiert mich diese Frage schon viel länger, nämlich etwa seit dem Zeitpunkt, da ich meine Schulzeit an der Heilbronner Waldorfschule beendete. Als ich die Schule verließ, hatte ich das Gefühl, ich laufe gegen eine Wand. Denn nun sollte ich mich ja draußen in der Welt orientieren, sollte meinen Platz im Leben finden. Diese Orientierung setzte jedoch voraus, dass ich zunächst eine Antwort auf zwei existenzielle Fragen bekommen würde. Die eine Frage lautete: was braucht die Welt von mir? An welcher Stelle kann ich zum Wohl der Gemeinschaft wirken? Vielleicht kann man das die „ökonomische Frage“ nennen. Und die andere Frage lautete: Was will ich für mich selbst erreichen in diesem Leben? Und wie finde ich diejenigen Menschen, die ich dazu brauche? Diese Frage könnte man vielleicht die „Bildungsfrage“ nennen.

Nun, ich wurde bitter enttäuscht. Auf keine der beiden Fragen erhielt ich eine Antwort. Ich sah mich einer Ökonomie gegenübergestellt, deren Prinzip es gerade zu sein schien, dass niemand sagen konnte, wo in einem bestimmten Augenblick die Kräfte wirklich gebraucht wurden. Da wurde die Blindheit der Produktion sogar zum obersten Gesetz erklärt. Das Gefühl, das mich überkam, wenn ich über den Sinn des Arbeitens nachdachte, fand ich gewissermaßen symbolisiert in den Glaspalästen der Banken. Denn wenn man auf die Glasfassade einer Bank hinblickt, nicht wahr, dann kann man nicht hindurchsehen, dann weiß man nicht, was da drinnen vor sich geht, sondern man sieht sich selbst, man spiegelt sich bloß selbst. Und das wurde für mich das Symbol der Wirtschaft. Ich wollte hinein in die Arbeitsleben, aber es ließ mich nicht hinein, sondern warf mich zurück auf mich selbst. Ich konnte nicht herausbekommen, wo ich wirklich gebraucht wurde. Stattdessen durfte ich zum Ausdruck bringen, was ich für mich selbst haben wollte, welche Lohnvorstellungen ich hätte. Ich sollte mich selbst gut verkaufen. Das interessierte mich jedoch nicht im Geringsten. Mich interessierte der Wert der Arbeit selbst. Aber dieser Wert schien mir verschleiert, systematisch verschleiert.

So scheiterte ich in dieser für mich existenziellen Frage, indem ich gewissermaßen an der Fassade des Wirtschaftslebens abprallte. Und ebenso scheiterte ich in der anderen Frage, in der Bildungsfrage. Plötzlich fand ich mich in einem Universitätsgebäude wieder, mir gegenüber ein Professor, und ich stellte fest, dass der mich nicht interessierte, genau so wenig, wie ich ihn interessierte. Das war ja auch ganz klar. Was hatte uns nämlich zusammengeführt? Nicht mein Interesse für diesen Menschen und seine Fähigkeiten, sondern ein Zahlen- und Verwaltungssystem hatte mich an diesen Ort geführt. Dasselbe System hatte auch diesen Professor zu mir geführt. Wir hatten uns also nicht gesucht. Und so konnten wir uns auch nicht finden. Wir hatten ja gar nichts miteinander zu schaffen. Also saßen wir uns gegenüber und glotzen uns an. Natürlich, ich blieb freundlich, und auch der Professor blieb freundlich. Auf diese Art würde ich keine Antwort darauf bekommen, wohin ich mich selbst entwickeln wollte, das begriff ich, denn dazu bräuchte es die Begegnung, das heisst, ein Zusammentreffen mit Menschen, die sich auch meinen, weil sie sich ernsthaft suchen. Ich muss ganz bestimmten Menschen begegnen können im Leben, Menschen, die mit mir und meinen Lebensfragen etwas zu tun haben, das fühlte ich.

So scheiterte ich auch in der Bildungsfrage. Aber ich machte das mit. Eine Weile wenigstens. Ich besuchte die Vorlesungen, und las die Pflichtlektüre. Ich machte meine Hausaufgaben. Um diese Entstellung meines Geistes ertragen zu können, musste ich allerdings ausweichen auf ein Gebiet, wo mein Geist Nahrung fand - wenigstens scheinbar. Also entwickelte ich ein Privatleben. Ich feierte, saß an Biertischen und philosophierte, schrieb Gedichte, und so weiter, Sie kennen das. Ich spaltete mich in einen Menschen, der das äußere Leben mitmachte, und in einen zweiten, der sich lebendig fühlte.

Heute bin ich nicht unglücklich darüber, dass es mir in meiner Jugend so erging. Denn ich lebte so auf meine Art dasjenige aus, was ich später als den fundamentalen Wesenszug unserer Zeit erkannte. Das muss ja jeder Mensch auf die eine oder andere Art ausleben. Wie lebt der Mensch nämlich? Vielleicht 8, 10 oder 12 Stunden täglich geht er arbeiten. Das heisst, dann steht er in einem sozialen Zusammenhang drinnen, dann ist er Arzt und operiert, betätigt den Hebel an einer Maschine, oder schreinert einen Tisch. Hier nimmt sich die Welt vom Individuum dasjenige, was sie selbst von ihm haben muss, hier läuft die Leistung des Einzelnen so in das Weltganze hinein, dass sie ein Beitrag wird zum Leben des großen Ganzen. Hier ist der Mensch Glied des Erdorganismus. Das heisst, für einen gewissen Zeitraum des Tages verbindet er sich mit seinen Mitmenschen. Hier verbindet er sich wirklich mit dem anderen, hier wird er Teil des Weltganzen. Doch - ausgerechnet hier ist er bewusstlos! Niemand weiß heute, wie sich seine Arbeit eingliedert in den Gesamtprozess, wie seine Leistung hineinläuft in den Weltprozess, wie sich der Wert da draußen weitergestaltet und umbildet.

Der Mensch stellt seine Arbeit hin ins Leben. Der Sinn, so glaubt er jedenfalls, der wird der Arbeit dann schon vom „Marktgesetz“ verliehen. Und dafür, dass der Mensch nicht mitwirkt am Sinn seiner Arbeit, dafür, dass er den ökonomischen Prozess vollständig bewusstlos mitvollzieht, sich gewissermaßen bloß verdauen lässt, dafür bekommt er eine Entschädigung: seinen „Lohn“. Das ist ja eigentlich die Entschädigung dafür, dass es dem Menschen stinken müsste, sein Bewusstsein just an dem Punkt auszuschalten, wo er sich real mit seinen Mitmenschen verbindet, wo seine Handlungen tatsächlich Auswirkungen haben auf das Weltganze. Mit Hilfe dieser Entschädigung kann er aber dann die Frage nach dem Sinn neben die Arbeit stellen. Er kann eine Freizeit haben, kann sich mit Freunden treffen, in den Urlaub fliegen, in die Kirche gehen oder Mitglied der anthroposophischen Gesellschaft werden. Die Entschädigung für die Bewusstlosigkeit erlaubt dem Menschen gewissermaßen, seine Seele neben das Leben zu stellen. Er muss mit seiner Seele nicht hinein in das Leben.

Und so haben wir auf der einen Seite das soziale Leben, da steckt der Mensch nicht drinnen mit seiner Seele. Das ist eine Maschine. Und auf der anderen Seite haben wir die Seele, die hat kein Leben. Die ist bloß ein Traum. Auf der einen Seite verläuft das „Leben“, mit dem kann die Seele aber nicht mit, das ist also in Wahrheit tot, auf der anderen Seite die „Seele“, die hat jedoch kein Leben, die ist bloß ein Hirngespinst.

Schauen Sie, es gibt zum Beispiel den Demeter-Gedanken. Ein Demeter-Bauer hat ja ein ganz anderes Bild von der Erde als ein konventioneller Bauer. Für den konventionellen Bauern ist die Erde ein Gefäß voll mit Nährstoffen, und die Pflanze zieht die Nährstoffe raus. Für den Demeter-Bauern verhält es sich genau umgekehrt: Für ihn arbeitet sich die Pflanze aus dem Kosmos in die Erde hinein. Für den konventionellen Bauern ist die Wurzel deshalb eine Art Schlauch, während sie für den Demeter-Bauern so etwas ist wie ein Nervengewebe, wie die Finger eines Wesens, das in Beziehung tritt mit der Erde. Für den Demeter-Bauern ist dieser Beziehungsgedanke das Wesentliche, weshalb er auch die Zusammensetzung des Bodens unter einem ganz anderem Gesichtspunkt betrachtet. Für ihn muss der Boden nicht bloß die Stoffe enthalten, die dann in die Pflanze hinein sollen, sondern auch das Umgekehrte: der Boden muss geeignet sein, dass die Pflanze in eine Auseinandersetzung mit ihm tritt und dabei selbst stark wird. Und wenn Sie jetzt hergehen und die Setzlinge eines konventionellen Landwirten und die Setzlinge eines Demeter-Bauern miteinander vergleichen, dann können Sie das sehen. Man sieht tatsächlich: der Setzling des konventionellen Bauern bildet schlauchartige Wurzeln aus, der Setzling des Demeter-Bauern dagegen ein verzweigtes Geflecht.

Nun reicht es aber nicht, mit Demeter bloß im Labor zu experimentieren. Schließlich wollen wir Demeter-Produkte auch auf dem Tisch haben, wollen Demeter-Lebensmittel wirklich essen. Dazu ist es nötig, dass sich der Demeter-Bauer mit seiner Arbeit eingliedert in den ökonomischen Prozess, der aber heute ein Weltprozess ist, so dass der Demeter-Bauer damit zugleich, ob er will oder nicht, Mitglied der arbeitsteiligen Weltwirtschaft wird. Und das bringt zum Beispiel mit sich, dass er die Setzlinge gar nicht mehr selber zieht. Selbstverständlich ziehen die Demeter-Bauern ihre Setzlinge heute in der Regel nicht selber, sondern lassen sich diese liefern, und zwar einfach aus dem Grund, weil sonst das Demeter-Produkt so teuer werden würde, dass auch die Anthroposophen es nicht kaufen könnten. Dann hätten wir aber doch wieder kein Demeter in der Welt, wenn es niemand kaufen könnte.

Die Demeter-Betriebe bekommen die Setzlinge also, in der Regel jedenfalls, geliefert. Diese Setzlinge kommen als Torfplatten in die Demeter-Betriebe. Nun, der Torf ist jetzt aber ein besonderer Stoff. Torf ist eigentlich tot. Torf entspricht dem Gedanken, dass die Erde ein leeres Gefäss ist, welches die Chemikalien aufzunehmen hat, die man der Pflanze eintrichtern möchte. Auch deshalb hat sich der Torf in der konventionellen Landwirtschaft als Substrat für die Anzucht durchgesetzt. Jetzt ist es aber so, dass der Torf in unseren Gegenden bereits weitgehend abgebaut ist, dass es kaum mehr Moore gibt, die man trockenlegen könnte. Somit kommt dieser Torf von weither, aus Osteuropa, wo man gerade die letzten dieser Naturwunder zerstört, damit dann die Pflanzen bei uns gezüchtet werden, und damit wir letztendlich unsere Demeter-Produkte essen können.

Nun habe ich einmal einen Forscher kennengelernt vom Demeter-Forschungsring, der hat sich viele Jahre nur damit beschäftigt, an dieser einen Stelle Besserung zu bringen. Uli König heisst der, ich habe ihn auf einer Landwirtschaftstagung kennen gelernt. Dieser Mann hat tatsächlich viele Jahre Arbeit investiert, um an dieser einen Stelle Besserung zu bringen. Er wollte herausfinden, wie man den Torf ersetzen könne durch etwas, das eher dem Demeter-Gedanken entspricht. Ich will Ihnen verraten, was er geschafft hat: es ist ihm letztendlich gelungen, einige Großlieferanten wenigstens zu einer Beimengung von anderen Substanzen zu bewegen, die zum Beispiel aus Baumschnitt gewonnen werden, und daher weniger problematisch sind. Das ist ein großer Erfolg. Aber das Interessante für unser heutiges Thema ist hierbei etwas anderes. Was war nämlich das Problem, vor dem Uli König stand? Das Problem war, dass die Demeter-Landwirte eine Pflanz-Maschine verwenden, um die Setzlinge in die Erde zu bringen. Diese Pflanzmaschinen sind für den Torf entwickelt worden. Verwendet man eine andere Erde, bleiben die Setzlinge an der Maschine kleben, und lassen sich nicht in die Erde bringen. Der Forscher hatte also nicht bloß zu fragen: wie muss die Erde sein, damit sie für die Pflanze, damit sie für den Menschen gut ist? Sondern er musste fragen: Wie muss die Erde sein, damit sie der Maschine angepasst ist?

Natürlich können Sie jetzt einwenden: also müssen die Demeter-Bauern auf die Pflanzmaschinen verzichten. Wenn Sie das aber tatsächlich machen, müssen ja lebendige Menschen dasjenige tun, was vorher die Maschine getan hat, dann müssen also Menschen an dieser Stelle ein Einkommen haben. Dann wird aber das Demeter-Produkt wiederum so teuer, dass es in dieser Welt nicht da sein kann. Natürlich – wenn Sie wieder nur die Pflanzmaschine weglassen, schaffen Sie es vielleicht gerade noch. Und so können Sie auch mit Recht einwenden, dass es noch vielleicht kleine Demeter-Betriebe gibt, die ihre Setzlinge selber ziehen. Aber darauf kommt es gar nicht an, dass manche es an einer Stelle anders machen können, sondern darauf, dass man unzählige solche Stellen zusammennehmen muss. Wenn Sie all das zusammen nehmen, den Torf, die Setzlinge, die Pflanzmaschine und weiter alles, was letztendlich dazugehört, damit das Produkt entstehen kann, und Sie wollen all das richtig machen im Sinne des Demeter-Gedankens, dann bekommen Sie einen Preis, der jenseits dieser Welt ist.

Das heisst aber: Es gibt gar kein Demeter-Produkt, wenn Sie Demeter tatsächlich verwirklichen wollen. Das Verwirklichen hebt den Demeter-Gedanken auf. Es kann gar keine Verwirklichung des Demeter-Gedankens geben, weil in dem Augenblick, wo Sie Demeter verwirklichen, es kein Demeter mehr ist.

Sie können den Demeter-Gedanken niemals verwirklichen, ohne zugleich eine Antwort darauf zu geben, wie die Bedingungen der Preisverhältnisse vom Menschen ergriffen und gestaltet werden können. Diese Bedingungen liegen aber nunmal nicht im Demeter-Betrieb, sondern in der Welt. Sie müssen also ein ganz anderes Interesse entwickeln als das für ihr eigenes Geisteserzeugnis, wenn dieses Geisteserzeugnis nicht bloß in den Wolken schweben soll. Sie müssen ein Interesse für all das entwickeln, was mit ihrem Demeter-Gedanken unmittelbar gar nichts zu tun hat. Das eine ist ihr Ideal, das andere sind die sozialen Bedingungen auf dieser Erde. Und wenn irgendetwas Wirkliches im Leben zustande kommen soll, dann müssen Sie tatsächlich in beide Richtungen gehen, auf beiden Seiten eindringen können mit Ihrem Geist.

Das machen aber gerade die Anthroposophen nicht. Ich kann auch sagen: das machen wir Anthroposophen nicht, wenn Sie mir erlauben, hier einmal zu verallgemeinern. Sie wissen, wie es gemeint ist. Also, das machen wir nicht. Sondern was machen wir? Wir sind Pragmatiker, wir entwickeln einen anthroposophischen Pragmatismus. Was heisst das denn? Das heisst nichts anderes, als dass wir den Prozessen, die ich eben beschrieben habe, einfach unterliegen. Wir unterliegen einfach widerstandslos den Missverhältnissen. Das ist die anthroposophische „Praxis“. An der Stelle, wo wir uns real mit dem Weltprozess verbinden, da gliedern wir uns in einen Automat ein. Da geben wir keine praktische Antwort darauf, wie dieser „Marktmechanismus“ durch einen bewussten Vorgang ersetzt werden kann. Da ist keine anthroposophische Praxis an der Stelle, wo sonst der Marktmechanismus ist. Deshalb müssen wir aber dann auf der anderen Seite von dem, was vor unserem geistigen Auge steht, immer weiter abrücken. Das findet keinen Boden im wirklichen Leben, so dass unser vermeintliches Geistige ein bloßer Traum wird. Und in der Mitte haben wir dann den Kompromiss, nämlich den „anthroposophischen“ Betrieb. Dieser „anthroposophische“ Betrieb unterliegt in all dem, wodurch er den Weltprozess mit gestaltet, einfach dem Automat, dem so genannten „Marktgesetz“. Und von der anderen Seite, aus dem Privatleben, aus dem Off, da strömt in den Betrieb dasjenige ein, was an Geist unter diesen Bedingungen überhaupt da sein kann, der kleinste gemeinsame Nenner, was dann dem Betrieb eine gewisse Aura gibt, ein gewisses schöneres Arbeitsklima.

Die so genannte „Anthroposophie“ ist heute vielfach einfach dasjenige Mittel, um der Seele die Unterwerfung unter die Maschine zu erleichtern, um diese Unterwerfung verdaulicher zu machen, um die Seele abzustumpfen für die Wirklichkeit. Und man kann in der Tat den Eindruck gewinnen, als ob die „anthroposophische Gesellschaft“ heute eigentlich ein esoterischer Dienstleister geworden ist. Aber die Art, wie man im äußeren Leben steht, die wirkt ja zurück auf den Geist, die verändert ja auch die innere Verfassung des „Dienstleisters“. Das können Sie hier minutiös verfolgen gerade bei der anthroposophischen Gesellschaft. Wenn Sie nämlich einen durchschnittlichen Anthroposophen nehmen, der unter unter diesen „anthroposophischen“ Bedingungen anfängt, über die Welt nachzudenken – wie denkt der dann? Er denkt: die soziale Wirklichkeit ist eine Maschine. Maschinen arbeiten heute für den Menschen, das ist ein Segen. Der Mensch steht auf der anderen Seite und hat seine Träume. Und weil die Maschinen für ihn arbeiten, kann er ganz frei dasjenige tun, was in ihm selber liegt. Auf der einen Seite die Maschine, auf der anderen Seite die Seele. Das denkt er.

Ja, womit haben wir es dann da zu tun? Wir haben es mit einem „Denken“ zu tun, das gar keines ist, sondern nichts anderes ist als das ins Geistige hinein fortgesetzte äußere Leben. Das ist einfach ein Abdruck der äußeren Lebenserscheinungen. Von einem „Verhältnis“ zur Welt können wir da gar nicht mehr reden, sondern das ist einfach ein Fortsatz der äußeren Welt in den Kopf hinein. Das ist das bedingungslose Grundeinkommen. Dieses bedingungslose Grundeinkommen ist ja nichts anderes als der psychische Ausdruck der äußeren Lebensverhältnisse. Deswegen kann man soviel Verständnis für die Anhänger des Grundeinkommens haben, das kann man verstehen, weil man da selber drinnen steckt in diesen Missverhältnissen.

Es ist also auch hier so, als wäre das Gehirn eine Art Schlauch, der einfach durchleitet, worauf es trifft - und nicht etwa ein weit verzweigtes Geäst, über das der Mensch sich denkend in Beziehung setzen kann zu den Erscheinungen des Lebens. Und dieser Schlauch, das ist dasjenige, was die anthroposophische Gesellschaft gegenwärtig in der Welt bedeutet. Jedenfalls ist es dasjenige, was von der breiten Öffentlichkeit als die Stimme der Anthroposophie in Bezug auf das soziale Leben wahrgenommen wird. Das heisst, man wendet gerade dem sozialen Leben gegenüber den Grundsatz der Anthroposophie nicht an. Gerade dem sozialen Leben gegenüber kommt man nicht auf die Idee, dass sich das Denken zunächst in sich selbst verstärken müsse, dass man das Denken auf seine eigene Grundlage stellen müsse, um es dem Leben selbständig gegenüberstellen zu können. Gerade dem sozialen Leben gegenüber lässt man das Denken einen bloßen Abdruck der äußeren Verhältnisse sein.

Und deshalb kommt man hier in einen merkwürdigen Widerspruch zu Rudolf Steiner, deshalb sieht man sich plötzlich genötigt, Rudolf Steiner irgendwie „überwinden“ zu wollen. Denn auf den, bei dem das Hirn bloß ein Schlauch ist, auf den wirkt die Idee der sozialen Dreigliederung radikal. So ein Mensch sagt dann: das ist viel zu radikal, was Rudolf Steiner da gewollt hat, das lässt sich nicht verwirklichen, und ist deshalb unpraktisch. Das lässt sich nicht verwirklichen! Nun, es kann nirgendwo eine größere Verwirrung geben als im Geist desjenigen, welcher der sozialen Dreigliederung vorwirft, sie ließe sich nicht verwirklichen. Denn das ist selbstverständlich, dass sich die Idee der sozialen Dreigliederung nicht verwirklichen lässt. Das ist sogar der Ausgangspunkt dieser Idee. Die soziale Dreigliederung kann nicht verwirklicht werden. Die Idee der sozialen Dreigliederung ist nämlich der Anschauung derjenigen Kräfte entnommen, die da draußen das Leben gestalten. Und deshalb kann sie gar nicht eingeführt werden. Es kann nur sein, das derjenige, der sich auf diese Idee einlässt und sie gerade in ihrer Radikalität zu Ende denkt, dass der allmählich etwas wahrnehmen kann von den Kräften, die das soziale Leben bewirken. Die Idee der sozialen Dreigliederung führt ihn dann gewissermaßen zurück zu der Anschauung derjenigen Kräfte, die dem Autor dieser Idee vor dem innere Auge standen, als er die Idee dachte. Diese Kräfte sind aber die Ursachen des sozialen Lebens. Und deshalb, weil der Mensch dann eine Wahrnehmung von den Ursachen des sozialen Lebens hat, weil er in ein bewusstes und freies Verhältnis zu den Ursachen treten kann, anstatt bloß selbst eine ihrer Wirkungen zu sein, kann er sich dann auch aufschwingen zum Mitgestalter des sozialen Lebens, während er vorher den Verhältnissen bloß unterworfen war, bloß „pragmatisch“ handeln konnte.

Ich kann Ihnen den Unterschied zwischen den Pragmatikern und den wirklichen Praktikern vielleicht an einem Beispiel verdeutlichen, das einem ganz anderen Lebensgebiet entnommen ist. Sie wissen ja, dass man beim Menschen Stoffwechsel-, Nerven- und Zirkulationsprozesse unterscheiden kann. Niemand würde selbstverständlich deshalb auf die Idee kommen, den Stoffwechsel einführen zu wollen. Den braucht man nicht einzuführen, der ist eben da. Aber von seinem Dasein weiß erst derjenige etwas, der das Leben unter den Gesichtspunkten betrachten kann, die der Begriff ermöglicht. Für denjenigen, der keine Begriffe hat, bleibt die Welt verschlossen. Aber es handelt sich deshalb doch nicht darum, die Begriffe in die Wirklichkeit einzuführen. Man kann vielmehr mit ihrer Hilfe die Wirklichkeit anschauen. Man kann dann zum Beispiel beobachten, in welchem Verhältnis Stoffwechsel, Nerventätigkeit und Blutzirkulation zueinander stehen, wenn ein Mensch gesund ist, und in welchem, wenn er krank ist. Man kommt dann z.B. darauf, um einmal ein ganz schlichtes Beispiel zu wählen, dass sich das Blut nicht stauen darf, sondern eben zirkulieren muss. Man verhindert also den Blutstau. Und unter Umständen ist es möglich, dass man, um den Blutkreislauf in Gang zu bringen, gar nicht in den Blutkreislauf, sondern z.B. im Stoffwechsel etwas tun muss, meinetwegen die Ernährungsgewohnheiten umstellen muss. Da kommen wir dann in die Praxis. Und diese Praxis, die ist dann sehr verschieden von dem Begriff, nicht wahr?

Also, wenn man praktisch denkt, kann es sich gar nicht darum handeln, irgendeine Idee „einführen“ zu wollen. Und das ist eben das Absurde am Vorwurf derjenigen, die finden, man könne die Dreigliederung ja doch nicht einführen. Dieser Vorwurf ist nämlich selbst Ausdruck eines unpraktischen Denkens. Unpraktisches Denken, das ist: seine Ideen einführen zu wollen, so wie man meint, ein Grundeinkommen „einführen“ zu können! Das ist sogar die exakte Definition für ein unpraktisches Denken. Man tritt also an die Dreigliederung mit der Forderung heran, sie müsse sich einführen lassen, müsse also unpraktisch sein, und weil man sich das nicht vorstellen kann, findet man sie unpraktisch.

Man lebt eigentlich noch ganz in Ideen, man ist Ideen-Realist. Rudolf Steiner können Sie vom Standpunkt des Ideen-Realismus jedoch nicht verstehen. Denn nicht die Idee ist für Steiner das Wirkliche, sondern die Welt, wie sie sich in dem Augenblick zeigt, da das Denken auf seinem eigenen, selbständigen Boden steht. Die Idee ist gewissermaßen bloß der Augenöffner, das Mittel, um in ein Verhältnis zu den draußen im Kosmos wirkenden Kräften zu kommen. So ist die Idee der sozialen Dreigliederung zu verstehen. Es soll nicht eine Dreigliederung eingeführt werden, sondern es soll der Mensch darauf hingewiesen werden, dass jede menschliche Gesellschaft sich aus drei verschiedenartigen Prozessen speist. Und soll der Mensch der Gesellschaft sein menschliches Gepräge geben können, muss er die Ursachen der Gesellschaftsbildung sehen können, denn nur dann, wenn er die Wirklichkeit sieht, kann er die Wirklichkeit in seinem Tun auch beachten.

Ich will jetzt einmal ein solches Denken versuchen, das allmählich die Prozesse herausschält, auf welchen das gesellschaftliche Leben ruht. Es kommt bei allem Folgenden also gar nicht auf die Richtigkeit des abstrakt genommenen Gedankens an, sondern darauf, ob die Gedanken uns an solche Punkte führen, von denen wir dann sagen können: hier kann ich das soziale Leben ergreifen und mitgestalten, denn hier erkenne ich eine der Wurzeln des Lebens. Diese Gedanken sind deshalb radikal. Lassen Sie sich bitte für einen Moment auf diese Radikalität der Gedanken ein, und urteilen Sie erstmal nicht, was davon eingeführt werden soll. Was im Einzelnen zu tun ist und was nicht, das können wir dann im Anschluss besprechen.

Der Begriff „soziale Dreigliederung“ meint ja dasjenige, was uns Menschen aktuell miteinander zu einer Menschengemeinschaft verbindet. Er meint das, was im Programm dieser Tagung als „Zwischenraum“ bezeichnet wird. Dieser Zwischenraum ist nunmal kein einfacher, sondern ein dreifacher. In drei verschiedenen Räumen steht jeder von uns drinnen, auch jetzt gerade, in diesem Augenblick, denn auf drei verschiedene Arten treten wir Menschen miteinander in Beziehung. Und indem wir so zueinander in Beziehung treten, entstehen zwischen uns drei verschiedene Gebilde. Wir können auch sagen: jeder von uns ist Mitglied in drei verschiedenen Gesellschaften, und gestaltet aktiv diese drei Gesellschaften mit – allerdings unbewusst. Das geschieht auch jetzt gerade, in diesem Augenblick, zwischen uns. Genau so, wie das geistige Wesen „Mensch“, um wirklich auf der Erde zu sein, durch drei verschiedene Organsysteme hindurch muss, nämlich durch Nervensystem, Stoffwechselsystem und Zirkulationssystem, die jeweils für sich etwas ganz verschiedenes sind, relativ selbständig zueinander sind, genau so muss sich dieses geistige Wesen auch durch drei verschiedene Beziehungsformen entwickeln, um wirklich in der äußeren Welt zu existieren.

Wie uns aber Nervenprozess, Stoffwechselprozess und Zirkulationsprozess nicht bewusst sind, so lange wir nicht ihren Begriff bilden, so sind uns auch die Prozesse, die unsere soziale Wirklichkeit gestalten, unbewusst, so lange wir nicht den Begriff der sozialen Dreigliederung bilden. Die drei Prozesse im sozialen Leben nenne ich Geistesleben, Wirtschaftsleben und Rechtsleben, und die drei entsprechenden Räume könnte man vielleicht das geistige, das wirtschaftliche und das rechtliche Gebiet nennen. Aus ihnen heraus gestalten wir, wenn auch unbewusst, die äußere Wirklichkeit, dasjenige, was sich vor unserem Auge als Gesellschaft ausbreitet. Sie können selbstverständlich nicht etwas aus dem äußeren Leben herausgreifen, und es mit einem der drei Glieder identifizieren. Sie können nicht sagen, die Bank, das ist das Wirtschaftsleben. Nein, die Bank ist das Produkt des Zusammenwirkens von Geistesleben, Wirtschaftsleben und Rechtsleben. Manchmal wird die soziale Dreigliederung von Leuten, die sich nur ganz oberflächlich mit ihr befasst haben, so dargestellt: Wirtschaft, Staat, Zivilgesellschaft. Das ist natürlich Unsinn. Wirtschaft, Staat und Zivilgesellschaft sind nämlich für sich genommen jeweils das Produkt der drei Glieder. Und es kommt darauf an, diese Glieder für sich selbst zu sehen, in scharfen Umrissen. Man muss wirklich auf die drei primären Faktoren zurückgehen können, auf denen zum Beispiel das beruht, was wir heute „Bank“ nennen, oder „Staat“ und so weiter.

Diese Glieder wollen wir deshalb jetzt, jedes für sich, vor unser Auge stellen, so weit wir eben kommen. Ich wurde allerdings gebeten, dem Wirtschaftsleben besondere Beachtung zu schenken, so dass ich auf dieses Glied des sozialen Organismus den Schwerpunkt meiner Betrachtung legen werde. Beginnen möchte ich gleichwohl mit dem Geistesleben, weil wir dieses einfach an dem Punkt reflektieren können, an dem wir es gerade selber am Zipfel haben. Dann sehen wir sehr schnell, worauf es auf diesem Gebiet ankommt.

Was geschieht denn in diesem Augenblick zwischen uns Anwesenden? Nun, was zuerst auffällt, ist doch, dass ich hier stehe und eine Idee zur Anschauung bringe. Ich gestalte etwas, mit meinen Händen, mit meinem Mund. Sie hören zu und schauen zu. Ihnen wird das, was in mir Idee ist, zu einer äußeren Wahrnehmung. Was ich so vor Ihren Auge und Ohren ausbreite, das durchdringen Sie dann Ihrerseits mit Ihrem Denken, und kommen so zu ganz eigenen Ideen. Eigentlich ist das schon viel zu unscharf, wenn ich das so sage. Jeder hier durchdringt diesen Vortrag nämlich mit seinem eigenen Denken. Das heisst, jeder bringt das, was er jetzt an mir wahrnimmt, in einen Zusammenhang mit seiner übrigen Erfahrungswelt. Nun hat aber jeder von Ihnen andere Erfahrungen im Leben gemacht, so dass also jeder diese Darstellung hier mit anderen Wahrnehmungen verbindet, die nur ihm selbst zur Verfügung stehen. Sie können schon daraus ersehen, warum sich jeder von Ihnen in diesem Augenblick einen ganz eigenen Begriff von dem bildet, was ich zur Darstellung bringe. Wir haben es in diesem Augenblick mit genau so vielen Begriffen von der sozialen Dreigliederung zu tun, als Köpfe in diesem Raum sind. Es verhält sich eben keineswegs so, wie es sich das Bildungsministerium vorstellt. Bildung funktioniert nicht so, dass da oben irgendeine Idee als „Wahrheit“ definiert ist, die sich gleichförmig ausbreitet, indem sie dann herunter rieselt und in die Köpfe hineinkriecht. Es verhält sich genau umgekehrt: Bildung entsteht dadurch, dass sich ein Mensch der Idee entgegenstellt.

Die Idee, die ich gerade im Kopf habe, kann niemals Ihr Begriff sein, sondern für Sie ist das eine Wahrnehmung neben anderen Wahrnehmungen. Es hängt viel davon ab, dass Sie diesen Punkt vollkommen durchschauen. Denken ist etwas anderes als eine Idee wahrnehmen. Was ich denke, das kommt nie anders an Sie heran als dadurch, dass es eine Wahrnehmung für Sie wird. Und indem Sie diese Wahrnehmung mit anderen Wahrnehmungen verbinden, denken Sie selbst. Indem Sie sich der Ideen-Wahrnehmung durch Ihre eigene Denkaktivität entgegenstellen, bilden Sie sich erst einen Begriff. Der Begriff ist also dasjenige Element, in dem Sie sich jetzt gerade tätig darinnen befinden. Dabei, bei diesem Widerstand gegen meine Idee, dabei bilden Sie sich. Das ist Bildung. Das heisst, Begriffe oder Ideen wandern gar nicht im Raum umher, sondern verbleiben im Allerheiligsten der menschlichen Individualität. Was, so kann man nun fragen, was verbindet uns denn dann geistig miteinander?

Nun, wir können es ganz einfach machen. Wir können es so machen, dass ich Sie nachher abfrage. Und wenn das, was Sie dann zu sagen haben, meiner Idee entspricht, dann bekommen Sie von mir ein Zertifikat, das Sie berechtigt, selbst auch über unseren Gegenstand zu sprechen. Dann sind Sie akkreditierter Dreigliederungs-Experte. Dann sind Sie Dreigliederungs-Papst, oder Dreigliederungs-Päpstin. Das wäre dann unser gegenwärtiges Bildungssystem. Das Verbindende, das Gemeinschaftsbildende, das ist dann die Gewalt. Denn das ist ja Gewalt: dass einer darf oder nicht darf. Dürfen oder nicht dürfen – da sprechen wir von ganz äußerer, körperlicher Gewalt. Dann würden Sie immerhin etwas „lernen“.

Nun, das wäre dann aber doch eine sehr künstliche Einheit. Das wäre eine Einheit, in der der individuelle Mensch gar nicht drinnen steckt, denn der würde ja eben einfach platt gemacht, um die Einheit zu erzeugen. Das verbindet nicht wirklich, sondern das schafft nur den Schein einer Verbindung, indem es die Gegensätze unterdrückt. Was also kann uns wirklich miteinander verbinden? Es kann dieses Verbindende, wenn es real sein soll, doch nur so sein, dass nicht etwa die Gemeinschaft sich bildet auf Kosten des Individuums, durch Negation des Individuums, sondern durch dessen Förderung. Es muss das Verbindende gewissermaßen selbst nichts anderes sein dürfen als die freie Tat des Einzelnen. Nur eben so, dass der Einzelne durch seine freie Tat doch sich selbst überschreitet. Dann ist es eine reale Menschenverbindung. Ist so etwas denkbar?

Nun, denken Sie sich mal das, was ich eben angeführt habe, weg. Denken Sie sich alles, das irgendwie mit der staatlichen Gewalt verbunden ist, weg aus dem Geistesleben. Es gibt keine Akkreditierungsstelle, die definiert, was ein Professor ist, keine Kasse, die definiert, welche Therapie angewendet werden darf, kein Schulgesetz, kein Kultusministerium, keine Schulpflicht, niemand, der definiert, was ein Lehrer ist. Denken Sie sich zum Beispiel: es gibt keine Definition davon, was ein Lehrer ist. Und dann gehen Sie noch einen Schritt weiter, und denken Sie das einmal in der Radikalität, wie es Steiner gedacht hat, ohne sofort mit Sympathie oder Antipathie auf diesen Gedanken zu reagieren. Denken Sie: wenn es keine allgemeine Definition davon gibt, was ein Lehrer ist, dann kann es auch keine allgemeine Finanzierung für Lehrer geben. Denken Sie sich, es gibt keine Steuerfinanzierung für Lehrer, sondern das, was wir heute dem Staat als Steuer geben müssen, nur damit der Staat es in die Kultur gibt und dafür die Kultur definiert, das bleibt in unserer Tasche.

Was bleibt dann übrig? Dann bleibt das Kind. Und dieses Kind braucht einen Erwachsenen, um sich zu bilden. Aber es braucht nicht irgendeinen Erwachsenen, sondern einen bestimmten, nämlich denjenigen, der geeignet ist, die Anlagen des Kindes so hervorzulocken, dass dieses sich bilden kann. Und wenn wir wollen, dass dieser Erwachsene das Kind erzieht, und nicht etwas anderes tun muss, wie ist das möglich? Das ist dann nur dadurch möglich, dass wir diesem Erwachsenen das Einkommen geben, das er haben muss, wenn er nicht doch einen anderen Beruf ergreifen soll. Das heisst, dieser Erwachsene ist dann einfach dadurch Lehrer, dass das Leben zeigt, dass er ein Lehrer ist. Er ist einfach deshalb Lehrer, weil die Menschen, denen er seine Fähigkeiten angedeihen lassen will, diese Fähigkeiten erleben, und ihn deshalb als Lehrer anerkennen. Bedenken Sie: es gibt keine Schulpflicht. Dieser Erwachsene kann also nichts anderes aufwenden, um die Kinder in die Schule zu bringen, als seine pädagogischen Fähigkeiten. Und nur, wenn ihm das gelingt, wird er auch ein Einkommen haben, denn nur, wenn die Kinder sich bei ihm gut entwickeln, werden die Eltern bereit sein, den Lehrer zu bezahlen.

Da haben Sie den entgegengesetzten Prozess zu dem von heute. Nicht die Definition macht den Lehrer, sondern was die Definition von Lehrer ist, das ergibt sich dann aus dem realen Bildungserfolg. Dann haben Sie ein Geistesleben, das sich in genau dem Maß ausbreitet, in dem es die Anerkennung derjenigen Menschen hat, welche seine Wirksamkeit unmittelbar erfahren können. Dann haben wir lauter geistige Pflanzen, die, um zu wachsen, überall durch das individuelle Urteil des Menschen hindurch müssen. Denken Sie sich das als das umfassende Prinzip für alles, dass irgendwie mit Kultur, Wissenschaft oder Bildung zusammenhängt. Sie gehen zum Beispiel nicht mehr in ein Krankenhaus und lassen sich von demjenigen behandeln, der dort einen weißen Kittel trägt, sondern umgekehrt: dass der einen weißen Kittel trage darf, das liegt daran, dass Sie sich von ihm behandeln lassen. Er braucht Ihre Anerkennung, weil er nur dadurch ein Einkommen als Arzt haben kann. Nicht die Krankenkasse, nicht die Steuer, sondern ihre freiwillige Zahlung wird der Arzt brauchen. Dann haben Sie zum ersten mal tatsächlich ein Qualitätsmanagement, das diesen Namen verdient. Und der Arzt, der heute behindert ist durch die ganzen Definitionen von Kasse und Staat, hat zum ersten mal ein wirkliches Fundament, auf dem er seine individuellen Fähigkeiten entfalten kann.

Was heisst das konkret? Das heisst doch konkret nichts anderes als: ich gewinne den Prozess der Autoritätsbildung zurück. Autorität ist für mich nun derjenige, dem ich diese Autorität aufgrund meines eigenen Urteils zugestehe. Deswegen werde ich mir natürlich nicht anmaßen, selber operieren zu können, wenn ich zum Beispiel Tischler bin von Beruf. Aber ich maße mir sehr wohl ein Urteil darüber an, ob ich einem anderen Menschen den Raum geben möchte, mich zu operieren, mithin: Arzt zu sein. Das ist nicht gemeint, dass ich überall den Raum für mich selbst beanspruche, sondern das Umgekehrte ist gemeint: dass ich allmählich lerne, dem anderen Menschen den Raum auch „einzuräumen“, den dieser nach meinem eigenen Urteil verdient. Nicht ein dilettantisches Hinein-Urteilen in alle möglichen Lebensgebiete ist gemeint, sondern das bewusste Raum geben für denjenigen, der in einer bestimmten Sachfrage die Autorität für mich sein kann. Und jeder Mensch kann schließlich dem anderen Menschen in einer bestimmten Beziehung eine Autorität werden, sogar das Kind.

So tritt an die Stelle des Zertifikats das Interesse am anderen Menschen. Das ist gemeint mit dem Begriff freies Geistesleben: dass ich mir ein Bild mache vom anderen Menschen. Ein wirkliches Anschauen des anderen, ein auf Augenhöhe kommen mit dem anderen ist gemeint.[1]

Ich sagte eben: es sind so viele Begriffe der Dreigliederung vorhanden, als Köpfe in diesem Raum sind. So gesehen ist also jeder alleine mit sich und seinem Begriff. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Das stimmt nur, so lange Sie die Idee der sozialen Dreigliederung für das Wesentliche unserer Begegnung halten. Das stimmt, so lange Sie ein Ideenrealist sind, so lange Sie auf die Idee selbst schauen, die ich hier in die Mitte gestellt habe, auf die Idee der sozialen Dreigliederung. Solange wir bloß auf diese Idee hinschauen, so lange schaut ja jeder diese Idee von seiner Seite aus an. Ganz anders sieht die Sache jedoch aus, wenn wir nicht nur die Idee beachten, sondern auch den jeweiligen Menschen, der diese Idee denkt, wenn wir verfolgen, wie sich unser gemeinsame Gegenstand in der jeweiligen Individualität ausnimmt, wie genau die Idee wurzelt in dem Einzelnen, wenn wir verfolgen, warum der Begriff in dem einen Menschen diese, in dem anderen aber eine ganz andere Färbung gewinnt. Ein anderes Leben als in mir selbst hat der Geist nur im anderen Menschen. Und in dem Augenblick, da wir nicht allein die Idee betrachten, sondern zugleich den Menschen erkennen, der diese Idee denkt, in diesem Augenblick überschreiten wir lebendig die Grenzen, die uns durch unsere Individualität gesetzt sind. Wir können mit-leben mit dem Geist, wie er in den Grenzen unserer eigenen Individualität nicht leben kann.

Sie können das auch etwas philosophischer sagen: zur Objektivität gelangen Sie nicht, indem Sie gebannt auf Ihr Objekt starren, und Ihre eigene Perspektive dann verallgemeinern, sondern zur Objektivität gelangen Sie nur, wenn Sie die Subjekte mit hereinnehmen können in Ihr Denken. Das heisst aber: der Mensch hat ein ihm innewohnendes Interesse daran, den anderen darin zu fördern, sich in seiner individuellen Weise auszuleben. Eigentlich müsste jeder Mensch schon aus Egoismus ein Interesse an der Freiheit seines Nächsten entwickeln. Was habe ich nämlich davon, wenn der andere meine Perspektive nachäfft, weil er zum Beispiel ein Zertifikat haben will? Was habe ich davon, wenn der andere nicht aus den Kräften heraus schafft, die mir gerade fehlen? Ohne die Freiheit des anderen kann ich nicht zum Ding-An-Sich vordringen, sondern muss ewig in der Begrenzung meiner Persönlichkeit gefangen bleiben.

Der Weltinhalt offenbart sich also gewissermaßen erst im sozialen Leben, und zwar in demjenigen Glied des sozialen Lebens, in dem Menschen in der individuellen Begegnung die Möglichkeit gewinnen, sich selbst zu überschreiten, also im freien Geistesleben. Jeder Mensch hat, um zu seiner eigenen Vollkommenheit zu gelangen, die aktive Förderung der Freiheit seines Nächsten nötig. Die Freiheit ist auf diesem Gebiet somit selbst das gemeinschaftsbildende Mittel. Und die Freiheit ist dann erst dasjenige Element, was uns hinausführt über die Isolation der Begriffe.[2]

So viel vielleicht zum Geistesleben. Wir ersehen jedenfalls schon aus dem Gesagten, worauf es hier ankommt: auf die freie und freilassende Begegnung unmittelbar von Individuum zu Individuum. Jetzt müssen wir bei all dem aber noch etwas ganz anderes bedenken. Wir müssen bedenken, dass diese Begegnung ja nur im wirklichen Leben stattfinden kann. Sie kann nur dadurch stattfinden, dass wir körperliche Wesen sind, und uns im äußeren Raum gegenübertreten können. Das klingt selbstverständlich, und doch ist es das, wofür man heute am allerwenigsten Verständnis hat. Ich muss mich hier auf den Boden stellen können. Sie müssen auf Stühlen sitzen. Es muss eine Beleuchtung da sein, es muss uns vielleicht ein Bus hierhergefahren haben, und wir müssen Kleidung tragen.

Dieses ganz Äußere ist aber ebenfalls das Ergebnis einer zwischenmenschlichen Beziehung, jedoch einer solchen, die derjenigen, die ich bis jetzt geschildert habe, vollständig entgegengesetzt ist. Wir stehen gewissermaßen nicht nur im Geistesleben, sondern außerdem noch in einem weiteren Zwischenraum drinnen. Und auch diesen Zwischenraum gestalten Sie jetzt gerade aktiv mit, da fluktuiert etwas, da bewegt sich etwas unaufhörlich durch Ihr zutun, aber so, dass vollkommen im Unbewussten liegt, wie genau Sie das anstellen. Und zwar liegt es deshalb im Unbewussten, weil Sie mit all dem, was ich eben ausgeführt habe, in diesen Zwischenraum nicht mehr bewusst hineinkommen können. Wenn Sie da mit dem Ideal der Freiheit hineinwollen, schalten Sie dadurch gerade das Bewusstsein für dieses Gebiet aus. Das Paradoxe ist nun aber, dass Sie dennoch auch hier zu Bewusstsein kommen können. Sie können sogar der wache, selbstbewusste Mit-Gestalter auch dieses Zwischenraumes werden.

Die Verhältnisse sind hier allerdings sehr kompliziert. Nehmen Sie nur mal die Lampe da oben. Da ist eine Glühbirne drinnen. Verfolgen Sie, worauf es beruht, dass hier Licht scheint. Es beruht darauf, dass jemand die Glühbirne hierher gefahren hat, dass ein anderer sie zusammengebaut, einer das Glas gemacht, wieder ein anderer den Glühfaden, und ein weiterer den Rohstoff für den Glühfaden aus der Erde geholt hat. Das beruht wiederum darauf, dass die alle gegessen haben währenddessen, dass also ein Bauer Getreide angebaut hat, dass der Bauer Traktor gefahren ist, dass jemand den Traktor gebaut hat, und so weiter. Und wenn wir also hier zusammensitzen können im Sinn eines freien Geisteslebens, dann beruht das auf der Zusammenarbeit der ganzen Menschheit. Auf ganz andere Art, als wir innerhalb des Geisteslebens uns miteinander verbinden, sind die Menschen im Wirtschaftsleben miteinander verbunden, sind auch wir miteinander verbunden, sofern wir an dem Zustandekommen dieser äußeren Bedingungen beteiligt sind.

Die Beziehungsgeflechte, in die wir uns auf diesem Gebiet verwickeln, sind so kompliziert, dass es sehr schwer ist, das Wesentliche zu sehen. Was ist das Wesentliche bei all dem? Das Wesentliche ist, dass die Materie zwischen die Menschen tritt. Dieses Gebiet ist dadurch gekennzeichnet, dass wir uns hier nicht mehr unmittelbar, von Individuum zu Individuum begegnen können. Da unterbricht die Materie gewissermaßen die Begegnung. Zum Beispiel der Bauer, der mich ernährt: der wendet sich ja nicht mir persönlich zu, sondern der wendet sich der Erde zu. Der kennt mich gar nicht. Der will und muss mich auch gar nicht verstehen. Der wendet sich der Erde zu, und muss davon etwas verstehen. Aber das ist auch wieder nur eine halbe Wahrheit. Der Bauer wendet sich der Erde nämlich so zu, dass er diese im Hinblick auf mein Bedürfnis umgestaltet, er wendet sich also eigentlich doch mir zu, aber durch die Erde hindurch. Er nimmt mich gewissermaßen durch die Materie hindurch in den Blick, tritt durch die verwandelte Materie mit mir in Beziehung. Und was so geschieht zwischen den Menschen, wenn Menschen sich durch die verwandelte Materie hindurch verbinden, das können Sie nicht mehr verstehen, wenn Sie den Geist unmittelbar in der Begegnung greifen wollen.

Ein freies Geistesleben brauchen wir aus Gründen des Geistes. Das müssen wir nicht erst ökonomisch rechtfertigen.[3] Aus rein geistigen Gründen müssen wir die individuelle Begegnung suchen. Genau das können wir aber da, wo die Begegnung von Mensch zu Mensch unterbrochen ist, eben nicht mehr tun. Da können wir aber etwas anderes tun. Da können wir auf eine gewisse Art mit dem Geist untertauchen in die materiellen Verhältnisse, so dass diese durchsichtig werden, obwohl sie scheinbar harte Materie sind, doch durchsichtig werden für den Menschen. Weil das schwierig ist, sehen wir gegenwärtig in den äußeren Dingen, die uns umgeben, immer mehr nur eine Begrenzung des Sozialen. Das wird für uns immer mehr nur eine äußere, materielle Welt. Da hört das Bewusstsein vom Menschen also auf, da prallt es ab. Das können Sie gerade an manchen angeblichen Dreigliederern verfolgen. Da, wo sie scheinbar von Wirtschaft reden, verbergen sich eigentlich rein naturwissenschaftliche Begriffe hinter dem Wort „Wirtschaft“, aber keine wirtschaftlichen. Das ist dann Natur, so dass für dieses Empfinden das Soziale gewissermaßen erst nach der Wirtschaft beginnt, also im Geistesleben oder im Rechtsleben. Aber das stimmt eben nicht. Das ist nicht Natur, was uns im Wirtschaftsleben miteinander verbindet, sondern das ist verwandelte Natur, das ist Ware. Und die verwandelte Natur, die greift in einer bestimmten Weise ineinander, so, dass wir da mit dem punktuellen Verstand nicht mehr herankommen. Da brauchen wir etwas anderes.

Eben, als ich vom Geistesleben sprach, konnte ich mich noch schön von Punkt zu Punkt hangeln, da konnte ich ein wenig lyrisch sein. Da verstehen Sie mich ja schon dadurch, dass ich sage: Ich. Da ist es gerade richtig, wenn man sich mit seinen Begriffen hinstellt. Das geht beim Wirtschaftsleben nicht mehr. Da kann ich nur in Bildern denken. Ich habe deshalb vor Beginn ein Bild hier an die Tafel gemalt. Sie haben sich sicher schon gefragt, welchen Sinn das hat. Nun, der Sinn ist zum Teil, dass Sie sich die ganze Zeit fragen, was das eigentlich darstellen soll. Ich konnte mir also sicher sein, dass Sie mir bis hier hin folgen werden (Gelächter). Jetzt will ich Ihnen aber verraten, was das ist. Nein, es handelt sich nicht etwa um Ätherleiber oder so etwas, sondern die grünen Flecken, das sind einzelne landwirtschaftliche Betriebe. Die blauen Flecken dagegen stellen industrielle Betriebe dar, meinetwegen Textilfabriken oder ähnliches. Sie sehen also, die Antwort ist ganz trivial. Ich habe hier ein Bild der Weltwirtschaft an die Tafel gemalt. Es ist ein Bild, das heisst, es stellt die prinzipiellen Verhältnisse vereinfacht dar.

Damit es beispielhaft gerechnet werden kann, leben in dieser kleinen Weltwirtschaft nur hundert Menschen. Die sind verteilt auf zwei Branchen, auf die Landwirtschaft und auf die Textilindustrie, auf Höfe und Textilfabriken. Es geht eben nur um ein Bild, um das Prinzip der Weltwirtschaft verständlich zu machen. Ich schreibe jetzt also hin: Hof 1, Hof 2, und Hof 3, und hier drüben Fabrik 1, Fabrik 2 und Fabrik 3. Und jetzt schauen wir uns das einmal genauer an. Man kann an diesem Bild schon eine ganze Menge erkennen.

Wenn hier hundert Menschen leben, wie ich sagte, dann ergibt sich daraus schon mal mit absoluter Gewissheit, dass diese hundert Menschen bestimmte Dinge zum Leben brauchen, welche die Natur ihnen nicht hergibt. Zum Beispiel Brot und Kleidung. Diese Dinge sind nicht von Natur aus da, sondern nur durch menschliche Arbeit. Ohne dass diese Menschen hier verbrauchen können, was seinerseits nur durch menschliche Arbeit da ist in der Welt, wären diese Menschen selbst nicht da. Das liegt auf der Hand. Und ich sage auch wiederum nichts Neues, sondern beschreibe genau das selbe Bild von einer anderen Seite, wenn ich noch sage: Fakt ist dann aber auch, dass jeder Einzelne im Jahr einen gewissen Anteil solcher Warengattungen verbraucht, in unserem Beispiel also einen gewissen Anteil der Gesamtproduktion von Getreide und der Gesamtproduktion von Textilien.

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Es muss folglich im Jahr eine ganz bestimmte Menge an Getreide insgesamt da sein, und eine ganz bestimmte Menge an Textilien. Es muss sich ein ganz bestimmtes mengenmäßiges Verhältnis zwischen Getreide und Textilien einstellen, damit alle existieren können. Das kann jeder von Ihnen ohne weiteres erkennen, dazu ist keine höhere Mathematik nötig.

Jetzt habe ich aber einmal eine Frage an Sie: Ist es dann beliebig, wie die hundert Menschen hier auf die beiden Branchen verteilt sind? Kann ich beliebig festsetzen, wie viele von den hundert hier drüben, und wie viele in der anderen Branche beschäftigt sind? Könnte ich zum Beispiel einfach sagen: fünfzig sind Bauern, und fünfzig sind Schneider? Oder vielleicht: zehn sind Bauern, und neunzig sind Schneider? Oder könnte ich nur einen Bauern aufs Feld setzen und die anderen neunundneunzig zu Schneidern machen?

Nein, Sie haben ganz recht, das geht natürlich nicht. Getreide und Textilien sind unterschiedlich arbeitsintensiv. Und je nach dem, in welchem Umfang beide verbraucht werden, ergibt sich eine ganz bestimmte Anzahl von Arbeitsstunden auf der einen, und eine ganz bestimmte Anzahl von Arbeitsstunden auf der anderen Seite. Dadurch ergibt sich aber natürlich auch eine ganz bestimmte Anzahl von Menschen, die jeweils gebraucht werden. Lassen Sie sich hier bitte nicht von dem Unsinn über die angebliche Maschinenarbeit verwirren. Denn selbstverständlich fällt das von Menschen zu leistenden Maß an Arbeit erst an, nachdem wir das abgezogen haben, was Maschinen leisten. Wir reden in sozialer Beziehung von dem, was Menschen tun. Erst das ist „Arbeit“ im ökonomischen Sinn. Das andere ist physikalische Arbeit, und kommt für die soziale Frage an dieser Stelle gar nicht in Betracht. Es ist sogar für das eigentliche ökonomische Problem ganz gleich, ob Sie sich denken, dass die Bauern hier noch mit Pferden arbeiten, oder ob sie schon Traktor fahren. Gesetzt nämlich, die technischen Bedingungen sind so, wie sie eben zu einem bestimmten Zeitpunkt sind, ergibt sich eine ganz bestimmte Anzahl an Arbeitsstunden, die dann noch von Menschen geleistet werden muss, in unserem Bild zum Beispiel das Traktor-Fahren. Und nur davon rede ich, denn da kommen wir erst hinüber in das Wirtschaftsleben.

Was auch immer an Technik da ist – danach erst beginnt das Wirtschaftsleben. Gesetzt nämlich, die Produktivität pro Mensch ist so, wie sie unter den gegebenen technischen Bedingungen eben ist, dann bleibt pro Branche ein ganz bestimmter Aufwand an menschlicher Arbeit. Diese Menschenarbeit ist nötig, um diejenige Menge der jeweiligen Ware bereit zu stellen, welche tatsächlich verbraucht wird. Bezogen auf die hundert Bewohner unserer kleinen Weltwirtschaft: Es ist eine ganz bestimmte Verteilung der Arbeiter auf die beiden Branchen nötig, damit genau dasjenige mengenmäßige Verhältnis der Waren getroffen wird, das aufgrund des tatsächlichen Konsums da sein muss. Je nach dem, wie die Bedürfnisse sind, muss das Verhältnis anders ein. Vielleicht sind siebzig Bauern im Verhältnis zu dreißig Schneidern richtig, vielleicht müssen aber eher achtzig Bauern sein, und nur zwanzig Schneider. Ich kann das natürlich nicht vorhersagen, da dies eben durch die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen definiert ist.

Sie sehen jetzt auch, warum es sich mit der Frage der Berufswahl nicht so verhält, wie wir das zu denken gewohnt sind. Wir sagen heute: mir liegt das Lehrersein, also werde ich Lehrer. Nicht meine Neigung definiert jedoch „Arbeit“ im ökonomischen Sinn, sondern das Bedürfnis meines Nächsten. Die Arbeit ist einfach durch den natürlichen Organismus vorgegeben. Nicht ein Bösewicht, sondern die Natur des menschlichen Daseins zwingt uns zur Arbeit. Das ist aber eine ganz konkrete Arbeit, und in einem ganz bestimmten Umfang. In unserem Bild haben wir meinetwegen solche Bedürfnisse gegeben, dass alle genau dann leben können, wenn wir eine Verteilung von siebzig Bauern zu dreißig Textilproduzenten haben. Da kann keine Freiheit herrschen, wenn alle leben sollen, sondern da müssen genau siebzig Bauern sein, und dreißig müssen Schneider sein.

Und die arbeiten jetzt. Betrachten Sie das einmal in Ruhe, dann sehen Sie auch etwas anderes unmittelbar ein. Sie können sehen: es arbeitet ja hier niemand für sich selbst. Genau so wenig, wie ein Lehrer bloß die eigenen Kinder unterrichtet, genau so wenig essen die Bauern hier das Getreide selbst auf. Nein, was aus der Arbeit der Bauern hervorgeht, fließt allen Menschen zu, und so fließen auch die Produkte der Textilindustrie allen zu. Man kann auch sagen: Jeder der hundert Bewohner beansprucht einen Anteil des Gesamtproduktes der gemeinsamen Arbeit, um existieren zu können. Was den Einzelnen erhält, strömt ihm aus der Gesamtheit zu. Umgekehrt bildet sich das Gesamtprodukt ja nur dadurch, dass der Einzelne den Platz findet, an dem er zu diesem Gesamtprodukt beitragen kann. Man muss die Einkommensfrage also gewissermaßen umstülpen, um sie zu verstehen. Ich komme darauf gleich noch mal zurück.

Jetzt müssen wir das Bild in Bewegung bringen. Es ist ja noch viel zu starr, um den fluktuierenden ökonomischen Prozess wirklich abzubilden. Stellen Sie sich also bitte vor, wie die hier zuerst so vor sich hin arbeiten. Das plätschert so vor sich hin, und alles geht einige Jahre gut auf diese Weise. Dann aber ändert sich etwas in der Natur. Dafür kann der Mensch gar nichts unmittelbar, dass die Natur ihren eigenen Gesetzen folgt. Wenn ich das den Leuten in der Großstadt erzähle, sind da immer welche dabei, die das nicht glauben können. Die glauben mir einfach nicht, dass die Natur sich verändert, einfach deshalb nicht, weil sie ja nur die Erfahrung haben, das Brot bei Lidl aus der Kiste zu nehmen. Aber es ist schon so. Das Brot beruht auf der einen Seite auf menschlicher Arbeit, auf der anderen Seite aber auf der Natur. Und auch diese Naturseite ändert sich ununterbrochen. Was der Boden dem Menschen bei gleichbleibender Arbeit hergibt, das fluktuiert von Jahr zu Jahr. Nehmen wir einen Extremfall: sagen wir, es gibt eine Bodenerosion. Der Boden ist ausgelaugt. Das war in den vergangenen Jahren etwa in China ein Riesenproblem. Oder sagen wir, es gibt Dürren, wie in Russland vor einigen Jahren. Es ist ja ganz gleich – jedenfalls ist nach einem Jahr weniger Getreide da. Mit der selben Anzahl von Menschen kann nur noch relativ weniger Getreide bereit gestellt werden.

Diesen Punkt müssen Sie festhalten: Mit dem selben Umfang menschlicher Arbeit ist dann eine relativ geringere Menge an Getreide vorhanden. Was passiert dadurch? Nun, sehen wir zuerst auf die Seite des Textilproduzenten. Für den hat sich scheinbar nichts geändert. Der kann weiterhin seine Kleider im selben Umfang anbieten. Aber das, was er dafür haben muss, damit er Textilproduzent sein kann, das bekommt er nicht mehr. Das ist ja nicht mehr da. Es steht einfach seiner Leistung eine geringere Leistung von der anderen Seite gegenüber. Und wie ist es auf der Seite des Bauern? Nun, der Bauer wird einen relativ größeren Anteil seiner Erzeugnisse selbst verzehren müssen, bevor er etwas hergeben kann für die Textilien. Er wird stärker wieder ein Selbstversorger. Und der Textilproduzent wiederum hat keine andere Wahl, als auch den letzten Rest Getreide noch anzunehmen, wenn er nicht verhungern will. Er kann nicht etwa im Gegenzug weniger Textilien hergeben, als vorhanden sind. Das eine hat mit dem anderen ja nichts zu tun. Das heisst aber nichts anderes als: Das Getreide wird zu teuer, und die Textilien werden zu billig!

Da haben Sie einmal den Begriff des Preises realwirtschaftlich gefasst. Etwas anderes geschieht auch heute nicht, auch heute bestimmt sich der Preis letztendlich aus diesen Verhältnissen. Nun, wir werden das gleich besser verstehen. Zuerst wollen wir aber den hundert Menschen hier irgendwie helfen, nicht wahr? Wir wollen sie ja nicht verhungern lassen. Die verhungern aber, wenn wir nichts tun. Denken Sie einmal, die arbeiten einfach so weiter, ins zweite, dritte, vierte und fünfte Jahr hinein. Dann wird das Missverhältnis ja immer schlimmer, bis hier drüben die ersten Textilproduzenten verhungern. Was also können wir tun? Sehen Sie das?

Eine junge Frau: „Wir müssen dafür sorgen, dass genügend viele Arbeiter nun aus der Textilbranche abwandern und in die Landwirtschaft hinein wandern. Wir müssen Arbeitskräfte aus der Branche, wo die Produkte zu billig sind, in die Branche leiten, wo sie zu teuer sind.“

Danke. Das ist tatsächlich die einzige mögliche Antwort. Ich bin ganz erstaunt, dass Sie das sofort sehen. Ich bringe dieses Beispiel öfters, doch meistens dauert es eine ganze Weile, bis jemand im Publikum bereit ist, seinen Arbeitsplatz aufzugeben. Denn das bedeutet das ja. Aber Sie haben natürlich recht, das ist die einzige Möglichkeit. Meistens bekomme ich jedoch die Antwort: „Man muss Getreide importieren“. Selten kommt auch jemand darauf, alternativ die Textilien zu exportieren. Beides ist in einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft jedoch ausgeschlossen. Wenn ich von Weltwirtschaft spreche, muss ich nämlich die Agrarfläche insgesamt berücksichtigen, und so auch der Textilindustrie insgesamt und so weiter, aber natürlich nicht von der Agrarfläche innerhalb der Staatsgrenzen der Bundesrepublik. Wenn wir heute noch Volkswirtschaften hätten, dann freilich könnten wir das auch mit Import und Export korrigieren. Sofern wir heute jedoch Weltwirtschaft haben, hört die Möglichkeit auf, ein Ungleichgewicht durch Import und Export zu lösen. An den Grenzen des Erdorganismus hört eben die Möglichkeit auf, das Preisproblem durch Import und Export zu lösen. Mit dem Mond kann man nämlich keinen Handel mehr treiben. Dadurch müssen wir heute das Preisproblem innerhalb der Grenzen der Erde lösen. Nicht überall zwar, aber sofern wir Weltwirtschaft haben, ist die Grenze der möglichen Expansion erreicht. Diese Unmöglichkeit, auf die alte Art zu rechnen, markiert den Punkt, an dem Weltwirtschaft beginnt, von da aus muss man den Begriff „Weltwirtschaft“ bilden. An diesem Punkt muss man entweder ein ganz neues, nämlich zum ersten mal ein ökonomisches Denken entwickeln, oder eben nach Innen hin Krieg führen. Krieg ist ja die einzige Alternative zu einem ökonomischen Denken. Alternativ könnte tatsächlich auch ein Krieg helfen. Ein Teil der Erdbevölkerung könnte sich zum Beispiel durch Destruktion anderer Teile künstlich neue Absatzmärkte verschaffen, und so weiter. Eine Zeitlang wenigstens könnte das funktionieren. Aber das wäre Krieg, nicht Ökonomie. Und wenn Sie mal hinschauen auf die intellektuellen Erzeugnisse unserer Universitäten, werden Sie leicht erkennen, dass unsere angebliche „Wirtschaftslehre“ aus lauter Kriegsbegriffen besteht, nicht aus ökonomischen Begriffen.[4]

Zwischenfrage: „Ich verstehe noch nicht, wieso der Ertrag größer wird, sobald mehr Menschen in der Landwirtschaft arbeiten. Die Bodenqualität wird davon doch nicht besser.“

Mit der Bodenqualität hat das auch gar nichts zu tun. Zwar wäre es theoretisch auch denkbar, die Bodenqualität zu verbessern. Dann müsste aber zuerst etwas passieren innerhalb des Geisteslebens, es müsste eine Idee, eine Fähigkeit da sein zur Verbesserung der Bodenqualität. Nun ist es aber keineswegs so, dass neue Ideen just in dem Augenblick gefunden werden, da sie von der Wirtschaft gefordert sind. Sie müssen das Geistesleben durchaus für sich betrachten, es so nehmen, wie sie auch die Natur nehmen. So wie die Natur die Ausgangslage des Wirtschaftens definiert, so definiert auch die gegenwärtige Fähigkeit des Einzelnen die Ausgangslage des Wirtschaftens. Deshalb ist es wichtig, dass Sie den ökonomischen Begriff der Arbeit nicht verwechseln mit dem physikalischen. Denn mit der Physik ragt ja der Geist in die Wirtschaft hinein, indem er ökonomische Arbeit durch Technik erspart. Beides, Technik und Natur, müssen Sie gewissermaßen von der Wirtschaft abziehen, um den Wirtschaftsprozess als solchen zu sehen. Wenn Sie davon absehen, erkennen Sie erst das rein wirtschaftliche Problem.

Ich hatte die menschlichen Fähigkeiten deshalb genau so vorausgesetzt, wie ich die Natur voraussetzte. Ich rechne mit den Fähigkeiten, mit den technischen Ideen, wie sie zum Zeitpunkt X eben sind, und nehme die Bodenqualität, wie sie sich dann ergibt. Dann habe ich jedoch erst das Problem. Geist und Natur sind das Problem, nicht die Lösung. Sie können es auch so sagen: je nachdem, was Natur und Geist voraussetzen, schlägt die Ökonomie in die eine oder andere Richtung aus. Geist und Natur bringen die Wirtschaft ständig ins Ungleichgewicht. Aber beides sind Faktoren, die vom Gebiet des Wirtschaftslebens aus gesehen als solche einfach hinzunehmen sind. Aufgabe der Wirtschaft kann es deshalb nur sein, dieses Ungleichgewicht auszugleichen, indem sie mit ihren Mitteln die Balance hält zu Geist und und Natur. Die Schwankungen der Natur, das ist das Problem, nicht die Lösung. Und genau so ist die Entwicklung des Geistes das Problem, und nicht die Lösung. Schauen Sie, ich hätte nicht davon sprechen müssen, dass die Bodenqualität abnimmt, sondern ich hätte durchaus auch davon sprechen können, dass im Geistesleben Erfindungen gemacht werden, welche die Bodenqualität verbessern. Dann hätten wir das selbe Problem, nur spiegelverkehrt. Dann hätten wir bei gleichbleibender Beschäftigungszahl eine Ertragssteigerung in der Landwirtschaft. Dann würden landwirtschaftlichen Erzeugnisse gegenüber den Textilien zu billig werden.

Geist und Natur wirken immer nur auf einzelne Branchen. Aber davon hängt unser Leben gar nicht ab, sondern von dem Verhältnis der Branchen zueinander. Auf die Verhältnismäßigkeit kommt es in der Wirtschaft an, nicht auf die absolute Menge des einzelnen Produkts. Das ist eine unverrückbare Tatsache, die Sie sich anhand dieses Bildes hier sehr leicht verdeutlichen können. Nehmen Sie also bitte den Boden einfach so, wie er zum Zeitpunkt X eben ist, und die Fähigkeiten, wie sie sind. Dann ist doch klar, dass der Gesamtertrag größer wird, sobald nun mehr Menschen in der Landwirtschaft arbeiten als vorher! Oder etwa nicht?

Zwischenruf: „Nein, das verstehe ich nicht. Der Ertrag ändert sich meiner Meinung nach nicht.“

Sehen Sie, ich kann als Mensch nur einen bestimmten Raum ausfüllen. Bis zu einer bestimmten Grenze erstreckt sich das, was ich bearbeiten kann, meinetwegen auch mit dem Traktor, mit Hilfe der Maschinen. So viel kann ich schaffen, so viel kann ich als Waren bereitstellen. Mehr geht nicht. Wenn noch mehr da sein soll, muss ein zweiter an dieser Grenze neben mir stehen, und das selbe tun. Dann ist mehr da. Es ist also ganz selbstverständlich so, dass mehr geschafft wird, wenn 40 Leute schaffen, als wenn 30 schaffen. Ich habe jedoch einen Verdacht, was Ihrem Denken hier einen Streich spielen könnte. Sie identifizieren den „Ertrag“ vielleicht instinktiv mit dem „Gewinn“, wie er dem juristisch-logischen Denken erscheint. Stimmt das?

Es ist allerdings interessant, dass Sie dieses Denk-Problem haben. Da spielt Ihnen einfach die griechisch-römische Tradition einen Streich. Es bleibt jedoch eine Tatsache: Wenn mehr Menschen an der Herstellung eines Produkts arbeiten, wird das betreffende Produkt billiger, und nicht etwa teurer. Wir aber denken: wenn mehr Menschen in der selben Branche arbeiten, dann müssen die alle auch ein Einkommen haben, also dürfte das Produkt doch teurer werden. Da denken wir in Ansprüchen, in Lohnbegriffen, an den subjektiven Besitz. Mit der Wirklichkeit hat diese Logik jedoch gar nichts zu tun. Es verhält sich eben gar nicht so, dass der einzelne Landwirt das konsumiert, was er sich selbst erarbeitet. Das reale Einkommen jedes Einzelnen, also das, was jeder Mensch tatsächlich konsumiert, besteht vielmehr in einem Prozentsatz des Gesamtprodukts aller Branchen. Das gilt aber für jedes Einkommen, in jeder Branche. Dieses reale Einkommen des Menschen müssen Sie einerseits im Blick haben, während Sie gleichzeitig verfolgen, wie das Gesamtprodukt, von dem das Einkommen ein Prozentsatz ist, sich durch die Bewegungen des Einzelnen verändert. Dann kommen Sie der Wirtschaft auf die Spur. Dann merken Sie aber auch, dass Sie eigentlich in einem Bild denken, allerdings in einem Bild, das in einer unaufhörlichen Bewegung ist. Aber nehmen Sie diese Frage vielleicht einfach als Denkaufgabe mit nach Hause: wieso wird ein Produkt, unter gegebenen technischen Bedingungen, durch die Erhöhung der Arbeiterzahl billiger und nicht etwa teurer – wo doch das Einkommen für diese Branche steigt?

Nun wollen wir aber den Menschen hier helfen. Wir machen es so, wie die Dame es vorgeschlagen hatte, das heisst, wir leiten Arbeiter aus der Textilbranche hinüber in die Landwirtschaft. Siebzig von hundert Bewohnern waren zuvor Landwirte. Ihnen standen dreißig Schneider gegenüber. Jetzt vergrößern wir die Landwirtschaft, was bei gegebener Bevölkerungszahl ja nur durch eine Verkleinerung der anderen Branche möglich ist, so dass wir jetzt meinetwegen achtzig Landwirte haben, und ihnen gegenüber noch zwanzig Schneider. Dadurch nimmt die Menge an Getreide im Verhältnis zur Menge an Textilien wieder zu, das heisst, das Verhältnis verschiebt sich in die andere Richtung. Das senkt den Preis der landwirtschaftlichen Güter, im Verhältnis zu den Gütern der Textilbranche. Das Preisverhältnis entspricht wieder dem, was die menschlichen Bedürfnisse fordern.

Und jetzt machen Sie sich bitte ganz klar, was das bedeutet. Das bedeutet, dass jetzt alle an einer bestimmten Stelle verzichten müssen, nämlich bei den Textilien. Die werden ja im Gegenzug knapper und teurer. Dem Vergrößern der einen Branche entspricht in einer arbeitsteiligen Wirtschaft stets die Verkleinerung einer anderen Branche, und damit entspricht auch das Wohl aller stets einem konkreten Verzicht aller. Und das weisst uns nun auf etwas ganz Bedeutsames hin. Das weisst uns darauf, dass es tatsächlich ein objektives Wertverhältnis der Waren gibt, gemessen am menschlichen Organismus. Ich kann dieses objektive Wertverhältnis nicht definieren, sondern das wird von den tatsächlichen Bedürfnissen definiert. Aber wir können vielleicht schon sagen, dass ein Mensch sein Hemd eher zwei Monate länger trägt und er dafür satt wird, als umgekehrt, als dass er im Anzug verhungert. Aber wie gesagt, das kann ich nicht wissen. Es kann auch anders sein, es kann auch sein, dass Menschen trotzdem stärker Kleidung nachfragen, auch wenn sie dafür hungern müssen. Darauf kommt es eben an, dass man das hinnimmt, was die verschiedenen Bedürfnisse tatsächlich sprechen. Das ergibt dann gewissermaßen eine Hierarchie der Bedürfnisse, ein objektives Wertverhältnis. Wirtschaften heisst eigentlich nichts anderes, als die Produktionsverhältnisse in Einklang zu bringen mit den objektiven Wertverhältnissen. Wenn das Verhältnis der Branchen zueinander so ist, dass es mit jenem objektiven Wertverhältnis übereinstimmt, haben wir diejenigen Preisverhältnisse, unter denen jeder Mensch leben kann.

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Es kommt also gar nicht bloß auf das Wachstum an, sondern immer zugleich auch auf das bewusste Schrumpfen. Beides hängt ja zusammen, es ist beides dasselbe, nur von zwei Seiten betrachtet. Und dass man diese Zusammenhänge nicht begreift, obwohl sie real sind, das ist die EU-Krise, die Euro-Krise. Deshalb muss jeder heute zwangsläufig spekulieren, es geht gar nicht anders. Das wird erst in dem Augenblick anders, in dem man genau anzugeben weiß, welche Branche zu einem Zeitpunkt X zu wachsen, welche dagegen zu schrumpfen hat, gemessen an den tatsächlichen Bedürfnissen. Seit es eine arbeitseilige Weltwirtschaft gibt, steht die Menschheit vor der Frage, wie einerseits das objektive Wertverhältnis erfasst, und wie diesen andererseits die Produktionsverhältnisse angepasst, wie also Menschenströme im rechten Augenblick aus der einen Branche heraus und in die andere hinein gelenkt werden können.

In unserer Wirtschaftswissenschaft taucht dieses Problem verdeckt auf, als so genanntes „Lenkungsproblem“. Und wissen Sie, wie unsere Wirtschaftswissenschaft das Problem lösen will? Sie will es gar nicht lösen. Sie sagt sogar: der Mensch darf das Problem nicht lösen wollen. Das ist ihre Theorie. Der Mensch darf das Problem nicht lösen wollen, weil wenn der Mensch das Problem lösen will, stört er das Problem dabei, sich selbst zu lösen. Das ist die Theorie: das Problem löst sich selbst. Dabei darf man das Problem nicht stören. Und wie löst es sich selbst? Durch die menschliche Gier. Hinter der Gier wirkt nämlich die so genannte unsichtbare Hand. Das kommt aus der Theologie, wie Ihnen vielleicht bekannt ist. Der Mensch soll nur an sich selbst denken, dann löst Gott die Probleme. Das ist die Theorie. Und dieses religiöse Dogma herrscht mit solcher Absolutheit, dass Sie kaum irgendwo unterrichten können, oder veröffentlichen können, wenn sie sich nicht das Bekenntnis zum lieben Gott ablegen. Sogar die Linken bekennen sich zur „sozialen Marktwirtschaft“, zum Glauben an die unsichtbare Hand.

Wie löst denn der liebe Gott unsere Probleme? Ich will einmal anhand unseres Bildes kurz skizzieren, wie man sich das vorstellt. Auf unser Bild angewendet bedeutet diese Theorie der sozialen Marktwirtschaft zunächst, dass hier drüben das Getreide knapp wird, so wie ich es beschrieben habe. In der Folge können die Bauern höhere Preise nehmen. Das ist, wie gesagt, ein Problem für die Textilproduzenten auf der anderen Seite. Nun sagt die Theorie: diese Textilproduzenten sind ganz durchtrieben. Die wollen nämlich auch gerne so hohe Preise nehmen, weil sie auch gerne so fett werden wollen wie die Bauern hier drüben. Also wechseln sie die Branche. Die Gier treibt sie hinüber in die Landwirtschaft, weil sie auch von der Knappheit profitieren wollen, weil sie auch zu hohe Preise nehmen wollen. So laufen immer mehr hierüber. Dadurch wird das Getreide billiger. Es wird immer billiger - bis es zu billig ist. Dann gehen natürlich hier die Landwirte ein. Dann ist nämlich das Getreide zu billig geworden. Also treibt die Gier die Menschen wieder raus aus der Branche der Landwirtschaft in die nächste, bis es da wieder zu billig geworden ist, bis auch da kein Mensch mehr leben kann. Aber die Menschen, die dann an einer Stelle immer zu viele sind, die fehlen ja immer gleichzeitig an einer anderen Stelle. Da ist dann immer auch etwas zu knapp, dann herrscht da wieder Mangel. Also jagt die Gier die Menschen weiter, und weiter, und immer weiter. Das geht wie ein Pendelschlag, und immer schlägt das Pendel zu weit, und immer kommen Menschen um, entweder weil ihre Branche zu billig ist, oder weil eine andere vernachlässigt wurde.

Sie sehen, die ständige Produktion von Mangel ist in dieser Theorie der eigentliche Motor. Ohne Mangel vorauszusetzen, können Sie nicht von einer Marktwirtschaft sprechen. Über 30 Millionen Menschen müssen deshalb mittlerweile jedes Jahr für diese Theorie verhungern, und es werden immer mehr. Das ist der so genannte Marktmechanismus. Marktwirtschaft heisst nichts anderes als: man findet das objektive Wertverhältnis nicht. Man bleibt ganz befangen im rein subjektiven Standpunkt. Und diese subjektive Befangenheit erklärt man dann zur Religion, zur Staatsreligion. Aber das Objektive ist dann trotzdem da, auch wenn man es ignoriert. Einfach durch das, was sich die Bedürfnisse der Menschen zu sagen haben, ist es da. Und wenn man die Tatsachen ignoriert, weil man an den lieben Gott glauben möchte, wird man laufend auf die Tatsachen gestoßen, aber so, dass es wirklich weh tut. Es ist ja da, das objektive Wertverhältnis, ob man will oder nicht. Und indem man es ignoriert, werden die Menschen durch das objektive Wertverhältnis einfach gezwungen, irgendwo zu verzichten. Letztendlich korrigiert sich das zahlenmäßige Verhältnis der Menschen zueinander also doch, dann aber eben dadurch, dass Unmöglichkeiten entstehen, dass Menschen auf der Straße landen, dass Menschen umkommen, bis man aus Zwang dann doch, unbewusst, dem Wertverhältnis folgt. Man kann schon sagen, da draußen wütet ein Wirtschaftsgott. Der wütet nämlich überall da, wo der Mensch sich nicht als ökonomisches Wesen begreift und ergreift.

Die Frage ist also: Wie lässt sich das Objektive erfassen, bevor die Unmöglichkeiten da sind? Wie ist es möglich, die menschliche Arbeit an den objektiven Wertverhältnissen so zu orientieren, dass der Mensch dabei gewissermaßen balanciert, gegensteuert in dem Augenblick, in dem das Verhältnis zu kippen droht?

Nun, genau das ist die Frage, die sich Rudolf Steiner nach dem ersten Weltkrieg stellt. Und seine Antwort ist, vorsichtig gesagt, brillant. Deshalb brauchen wir jetzt nicht unbedingt Steiner zu lesen, da können Sie auch selber drauf kommen. Es folgt nämlich aus den Tatsachen. Das Brillante ist gerade, dass hier einmal jemand den Tatsachen gefolgt ist, anstatt sich in Utopien zu ergehen. Sie kommen also selbst darauf. Sie kommen drauf, wenn Sie beachten, was ich eben getan habe, wie ich hier einen Pfeil gemalt habe, und so die Arbeiter herüber gelenkt habe in die andere Branche. Dann kommen Sie drauf. Sie müssen dazu aber mich selbst, wie ich diesen Pfeil male, mit herein nehmen in das Bild.

Worauf beruht das denn, dass ich diesen Pfeil machen kann, dass ich sagen kann, so und so viele Menschen müssen von der Textilwirtschaft in die Landwirtschaft wechseln, damit dasjenige Verhältnis getroffen wird, durch das alle leben können? Weshalb kann ich das tun, worauf beruht das? Nun, das beruht darauf, dass ich über ein absolutes Bewusstsein verfüge, dass ich eine auktoriale Perspektive einnehme, dass ich also alle Gebiete des Wirtschaftslebens von oben überblicke. Ich weiß genau, was jeder Einzelne an seinem Platz vorfindet. Ich weiß, welche Bedingungen der Landwirt vorfindet, und wie der Landwirt diese Bedingungen beurteilt. Ich weiß auch, wie der Textilproduzent dasjenige beurteilt, womit nur er selbst wahrnehmend verbunden ist, was nur er selbst wirklich beurteilen kann. Ich kenne die Urteile, die nur jeder Mensch an seinem Ort selbst fällen kann, und ich kenne auch die Bedürfnisse, die jeder Mensch empfindet.

Das ist aber unmöglich. Ich kann unmöglich die Bedingungen des physischen Raumes außer Kraft setzen. Ich müsste ja aus meiner Haut fahren und gewissermaßen in jedem anderen Menschen drinnen stecken, um beurteilen zu können, was sich der Wahrnehmung dieses Menschen zeigt. Deshalb, so Rudolf Steiner, ist alles individuelle Denken grober Unfug, sobald es an die Wirtschaft herangebracht wird. Das individuelle Denken kann gar nicht zu einem Urteil darüber kommen, was weltwirtschaftlich richtig ist. Was wir da an Prognosen haben, ist notwendig Kaffeesatz-Lesen. Also, wenn Sie sonst vielleicht finden mögen, dass Steiner das Denken betont - hier ist es umgekehrt: gerade da, wo alle Welt denken will, da spricht Steiner dem Denken die Kompetenz ab. Steiner findet: Die Frage, vor die uns die Weltwirtschaft stellt, ist nicht ein Appell an das Denken, sondern ein Appell an die unmittelbare Tat. Alles Denken muss sich nämlich auf die Wahrnehmung stützen können, wenn ein richtiges Urteil zustande kommen soll. Und die Wahrnehmung, von der das Urteil an dieser Stelle abhängt, ist die Wahrnehmung der objektiven Wertverhältnisse. Folglich, so Rudolf Steiner, müssen zuerst die ganz äußeren Verrichtungen getroffen werden, die nötig sind, damit jeder Einzelne eben doch etwas wissen kann von dem, was jeder andere Mensch nur selbst beurteilen kann, also von den Bedürfnissen und Produktionsbedingungen vor Ort, von dem, was jeder andere kann und braucht. Und es müssen vor allem auch die Verrichtungen dafür getroffen werden, dass die Wechselwirkungen zwischen den individuellen Urteilen sichtbar werden. Erst dann, wenn jeder Mensch wahrnehmen kann, wie auf wirtschaftlichem Gebiet jedes individuelle Urteil in Wechselwirkung mit dem anderen tritt, wie seine Richtigkeit die anderen bedingt und selbst durch die anderen bedingt ist, erst dann wird überhaupt ein ökonomisches Gesamturteil möglich. Nur aufgrund dieses Gesamturteils, das dann einfach sichtbar ist, das gar nicht „gedacht“ zu werden braucht im eigentlichen Sinn, kann der Einzelne das eigene ökonomische Handeln beurteilen, und dieses entsprechend in den Gesamtprozess einfügen.

Das heisst, die Frage der Ökonomie ist keine Denkaufgabe, sondern eine Organisationsfrage, nämlich die Frage nach der praktischen Organisation einer Wahrnehmungsmöglichkeit. Der Mensch kann zwar nicht aus seiner Haut fahren, aber er kann durch Organisation seiner Beziehungen zu einer Gesamtschau der Einzelurteile kommen. So nennt das Steiner: Gesamtschau der Einzelurteile. Schauen Sie bitte zum Schluss, welche Maßnahmen Rudolf Steiner konkret vorschlägt.

Ich will es wieder an unserem Bild verständlich machen. Hier drüben ist also ein landwirtschaftlicher Betrieb, daneben noch einer, und dort ein weiterer. Der erste Schritt, den Steiner vorschlägt, ist der Folgende: Es entsendet jeder dieser landwirtschaftlichen Betriebe einen Mitarbeiter, um sich mit einem Mitarbeiter des anderen Hofes zu treffen. Es geht also aus jedem Betrieb einer heraus, und die treffen sich hier in der Mitte. Dort tauschen sie ihre Erfahrungen miteinander aus, und dann geht jeder wieder zurück in seinen Betrieb, und bespricht mit seinen Mitarbeitern, was er von den anderen Betrieben erfahren hat. Das heisst, wir haben es hier in der Mitte mit einem Betriebsrat zu tun, der nicht der Rat ist für eine einzelne Betrieb, sondern ein betriebsübergreifender Rat, nämlich der Betriebsrat für die ganze Branche der Landwirtschaft. Dadurch gewinnt jetzt jeder Landwirt an seinem Ort einen Überblick über die Gesamtlage seiner Branche. Er weiß nicht nur, wie sich die Bodenqualität bei ihm selbst verhält, sondern er weiß auch, was andere Landwirte für eine Situation vorfinden, er weiß, wie sich die Getreideproduktion insgesamt verhält. Er weiß auch, welche Erfindungen zum Einsatz kommen, wo Arbeit erspart werden kann, denn das ist ja genau so wesentlich, was an geistigen Bedingungen einfliesst, das ändert die möglichen Verhältnisse genau so wie die Natur. So dass wir also eigentlich die Auflösung des Betriebsgeheimnisses haben. Und das passiert jetzt auch in der Textilbranche, und so in allen anderen Branchen. In jeder Branche sind die Mitarbeiter aller Betriebe, oder wenigstens eines repräsentativen Anteils der Betriebe, über einen betriebsübergreifenden Rat kommunikativ miteinander verbunden.

Das ist aber nur der erste Schritt. In einem zweiten Schritt entsenden diese Räte nun wieder jeweils einen, der sich mit den Vertretern der der anderen Räte trifft, so dass letztendlich ein branchenübergreifender Rat entsteht, in denen die Vertreter der verschiedenen Branchen zusammensitzen. Die tauschen sich aus, und tragen ihre Erfahrungen dann zurück in die betriebsübergreifenden Räte, und die Räte tragen es dann wiederum weiter bis in die einzelnen Betriebe. Damit hat jeder Arbeiter nicht nur einen Überblick über die eigene Branche, sondern überschaut zudem das Verhältnis seiner Branche zu den anderen Branchen.

Hier in der Mitte entsteht also so etwas wie eine Spitze, über die letztendliches jeder Arbeiter an seinem Platz kommunikativ mit jedem anderen verbunden ist. Und was da in dieser Spitze nun vor sich geht, das ist jetzt außerordentlich interessant. Da wird nämlich nichts entschieden, da werden keine Beschlüsse gefasst. Bitte halten Sie das fest: wenn ich davon spreche, dass da oben die Vertreter der Branchen zusammensitzen, dann sind das keine „Arbeitgeber“ oder so etwas. Ich will selbstverständlich nicht eine neue Art Arbeitgeberverband gründen, sondern das sind lediglich die Delegierten der Arbeiter, delegiert zu dem Zweck, Informationen weiterzugeben. Das ist ganz wichtig. Wenn ich also sage, da oben bildet sich eine Spitze, so enthält das keine Wertung, sondern das ist eben eine Spitze im Sinne eines Knotenpunktes. Diese Spitze kann niemandem Lohn auszahlen. Sie kann auch nichts anordnen, und nichts erlassen. Da werden keine Gesetze verabschiedet. Und trotzdem ermöglicht erst diese Art der Organisation eine Verwaltung der Wirtschaft, eine wirkliche Macht über die Wirtschaft (im Sinne des Gegenteils von Ohnmacht). Warum?

Nun, schauen Sie, wieder auf unser Bild. Da kommen also hier in der Mitte die Vertreter der Landwirtschaft zusammen mit denjenigen, die für die Branche der Textilwirtschaft sprechen können. Die Vertreter für die verschiedenen Branchen sprechen miteinander über das, was jeweils branchenspezifisch ist. Zum Beispiel berichtet der Vertreter der Textilwirtschaft: unsere Bedürfnisse haben sich nicht geändert, und die Produktionsbedingungen sind gleich geblieben. Es kann von uns aus alles so bleiben, wie es ist. Dann berichtet der Vertreter der Landwirtschaft. Der sagt: ja, in unserer Branche entsteht ein Problem, wir haben hier und dort einen Rückgang der Fruchtbarkeit des Bodens. Wir werden bei gleichbleibender Arbeitsleistung in den nächsten Jahren nur viel weniger Getreide bereit stellen können. So. Und das wars schon. Mehr braucht hier oben gar nicht zu geschehen, vom Prinzip her. Die Vertreter tragen das nun zurück zu den Betriebsräten, und diese tragen es zurück in die einzelnen Betriebe. Und dort unten an der Basis weiß nun jeder unmittelbar, was zu tun ist. Das ist das Spannende. Warum weiß er das?

Weil nun jeder dasjenige kennt, was Rudolf Steiner das wirtschaftliche Gesamturteil nennt, wie also die Einzelurteile in Wechselbeziehung stehen. Denn überlegen Sie mal: Der Textilproduzent an seinem Ort weiß ja nun, wie das Urteil der Landwirte sein eigenes Urteil modifiziert. Er weiß nun, dass keineswegs alles so weitergehen kann wie bisher, obwohl es von seiner Warte zunächst so scheint. Das weiß er durch sein Assoziieren mit der entgegengesetzten Branche. Wenn er also einfach weiterarbeitet wie bisher, dann wird er für seine Leistung nicht das bekommen, was er nehmen muss. Das weiß er jetzt. Das weiß auch der Ausbilder. Der weiß, dass es keine Sinn macht, für die Textilindustrie so auszubilden wie vorher, sondern dass jetzt eher für die Landwirtschaft ausgebildet werden muss. Und das weiß auch der Sparer. Der weiß, dass es wenig Sinn macht, nun in die Textilindustrie Kredit zu geben, wohl aber in Produktionsmittel der Landwirtschaft. Das heisst, jetzt kann Kapital bewegt werden, können die Menschenströme bewegt werden im Bewusstsein der tatsächliche Wertbildung. Dieses wirtschaftliche Gesamturteil ist also ein Urteil, das niemand gefällt hat, sondern es ist das Urteil der Weltwirtschaft, dasjenige, was sich aus dem Zusammenwirken der Fakten ergibt.

Also, das ist natürlich jetzt stark vereinfacht an einem Bild, aber das Prinzip dürfte dafür um so deutlicher werden. Was geschieht hier eigentlich? Es wird sichtbar gemacht, wie sich die Individualurteile gegenseitig bedingen. Jedes Individualurteil ist falsch. Wenn ich zum Beispiel sage, ich kann eine Hose für 80 Euro herstellen, dann stimmt das ja nur, sofern die Produkte, welche ich meinerseits kaufe, mit diesen 80 Euro zu haben sind. Jedes Urteil, das jemand an seinem Ort fällt, ist in der Wirtschaft notwendig falsch, beziehungsweise: es ist erst richtig in der Assoziation. Denn in meiner Preiskalkulation ist die Preiskalkulation jedes anderen Menschen integriert. Das heisst, was das Urteil des Textilproduzenten tatsächlich bedeutet, wenn er etwa sagt: bei mir kann es noch Jahre genau so weiter gehen, das weiß man erst, wenn man die Faktoren kennt, aus denen dieses Urteil besteht. Und diese Faktoren, das sind die Urteile der anderen Menschen an ihren Plätzen, die Urteile, die der Textilproduzent gar nicht fällen kann, weil er ja nicht an all diesen Plätzen steht.

Wenn der Mensch eine richtige Entscheidung gegenüber der Wirtschaft fällen will, kann er das allein durch eine Gesamtschau der Urteile. Es gibt keinen anderen Weg, und wenn doch andere Wege gesucht werden, dann führt das eben ins Chaos. Die staatliche Macht ist gegenüber der Wirtschaft einfach deshalb ohnmächtig, weil das Erlassen von Gesetzen sich nichts mit dem Erfassen des objektiven Wertes zu tun hat. Im Staat muss sich das aussprechen, was jeder Mensch in gleicher Weise beurteilen kann. Die Wirtschaft beruht auf dem Gegenteil, und dieses Gegenteil muss man genau so erfassen können, wie man in einer gesunden Demokratie das Rechtsgefühl erfassen muss. Das geht nicht durch demokratisches Abstimmen, sondern nur durch Assoziieren der Gebiete, die durch Arbeit und Konsum miteinander verflochten sind. Und dabei entsteht dann erst etwas, das man im gesunden Sinn eine ökonomische Macht nennen kann. Da entsteht nun ein Äquivalent zur staatlichen Macht, da entsteht wirkliche Macht über den ökonomischen Prozess. Niemand kann nämlich, wenn er sich nicht selbst ruinieren will, gegen das Urteil handeln, das sich aus der Gesamtschau der Einzelurteile ergibt. Was soll er denn machen, der Textilproduzent, nachdem er gesehen hat, wie die Dinge sich notwendig fügen? Soll er weiter produzieren wie vorher, soll er gar Kredit aufnehmen, wo er doch jetzt weiß, dass er morgen nichts verkaufen wird? Und wer wird ihm Kredit geben? Also, die Assoziation ist alles andere als zahnlos, weil sie eben zum ersten Mal aus der Logik der Wirtschaft heraus gedacht ist. Das Gesetz ist nicht aus der Logik der Wirtschaft heraus gedacht, sondern das Gesetz ist, sofern es anzuerkennen ist, aus der Logik des Rechtsgefühls heraus gedacht. Das steht auf einem selbständigen Boden, so wie das ökonomische Gesamturteil auf einem selbständigen Boden erwächst. Das muss man durchschauen. Denn man macht die Sache immer schlimmer und schlimmer, wenn man vom Staat fordert, etwas zu lösen, was er gar nicht lösen kann.

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Nicht das Schreiben von Petitionen führt in die Zukunft, sondern die Organisation von Wahrnehmungsprozessen in der angedeuteten Art. Rudolf Steiner nennt das, was sich durch diese Organisation bilden kann, ein „Kollektivurteil“. Die Trennung durch das Dazwischentreten der Materie wird gewissermaßen durch eine Organisation von Wahrnehmungsprozessen durchbrochen. Wirtschaftliches Assoziieren meint, ein Wahrnehmungsorgan zu bilden, durch welches die Erde durchsichtig wird für das Individuum. Und erst das wiederum ermöglicht dem Einzelnen, das Motiv seiner Arbeit im Menschheitsfortschritt zu finden. Erst das ermöglicht, wenn Sie so wollen, überhaupt zum ersten Mal moralisches Handeln. Denn nur wenn ich den anderen sehe, kann ich aus Liebe zu diesem anderen Menschen handeln. Gegenwärtig sind wir alle gezwungen, amoralisch zu handeln. Wir können ja nur nach dem eigenen Urteil gehen, das aber notwendig nur ein Ausdruck des eigenen Egoismus sein kann. Und das ist eben das Spannende an Rudolf Steiners Ansatz, dass er gar nicht darüber urteilt, ob der Mensch gut oder böse ist, sondern dass er die äußeren Bedingungen schaffen will, dass der Mensch, sofern er Gutes will, dieses Gute auch tun kann. Gegenwärtig kann der Mensch das Gute gar nicht tun, gegenwärtig beutet jeder den anderen aus, ob er will oder nicht. Der einfache Arbeiter, so Rudolf Steiner, ist der schlimmste Ausbeuter, denn er lebt von der Billigkeit und damit von dem Leid seiner Mitmenschen.

Sie können sagen, die Assoziation ist eine Utopie. Tatsächlich ist sie das genaue Gegenteil einer Utopie. Ich will Ihnen sagen, was eine Utopie ist: Eine Utopie ist es, ein Demeter-Produkt haben zu wollen, ohne Assoziationen auszubilden. Denn wenn Sie nicht wissen, wie sich der Preis eines Frühstückseis von 20 Euro herunterbringen lässt auf 50 Cent, ohne dass dabei Mensch und Umwelt verstümmelt werden, dann können Sie eben auch kein Demeter machen. Und das ist ja auch hier in der Schweiz die Situation. Sie haben es vielleicht verfolgt. Man erlebt jetzt, dass Bio nicht einfach wachsen kann, sondern dass Bio, je mehr es wächst, selbst auf Ausbeutung aufbauen muss. Da gibt es nun Widerstand gegen die großen Bio-Ketten. Dieser Widerstand ist natürlich auch wieder völlig verfehlt. Denn die Verbilligung durch den organisierten Handel an sich ist ja nicht negativ, sondern ein Segen. Es kommt darauf an, dass man weiß, wie man die Verbilligung, die ein Zweig des Wirtschaftslebens durch das Einwirken des Geisteslebens erfährt, wie man die sozialisiert, indem man sie in das richtige Verhältnis bringt zu anderen Zweigen. Dann erst steht man im Wirtschaftsleben.

Man ist einfach gezwungen, entweder die Assoziation zu begreifen, oder ein Lügengebäude zu errichten. Das ist die große Utopie: dass man glaubt, seinen Geist verwirklichen zu können, ohne die Wirklichkeit selbst zu beachten, die der Geist für sein Dasein braucht. Eine Utopie ist es, mit seiner Seele in der anthroposophischen Gesellschaft zu stecken, während der Wille vom Marktmechanismus getrieben wird. Dadurch wirkt dann die Anthroposophische Gesellschaft selbst antisozial, denn dadurch erzieht sie selbst zum utopischen Denken. Utopisch wird das Denken ja dadurch, dass der Wille nicht durchgeistigt ist, dass der Mensch seine ganz äußere, ganz triviale Handlungsrichtung nicht umwenden kann, indem er zum Beispiel die Anstrengung unternimmt, einen echten Betriebsrat zu bilden. Stattdessen schwärmt man dann von der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens. Gerade dass man das soziale Leben nicht erkennen will, sondern nur seine Anthroposophie retten will, das wird letztendlich zur Falle für die Anthroposophie selbst.

Die Wirtschaft selbst erlaubt nur den Altruismus. Niemand kann heute mehr etwas tun, um den eigenen Leib zu erhalten, sondern diesen muss er der ganzen Menschheit anvertrauen. Mein Leib wird getragen durch die Zusammenarbeit der ganzen Menschheit. Umgekehrt fließt mein Arbeitserzeugnis hinaus in die Welt, so dass gleichzeitig ich den Leib meines Nächsten erhalte. Dadurch stellt sich die Einkommensfrage auf den Kopf. Sie lautet heute nicht mehr: wie kann ich ein Einkommen haben? Sondern sie lautet: wie kann ich im Leben an den Ort kommen, an dem ich am ehesten die Bedürfnisse meines Nächsten treffen? Nur wenn nämlich jeder stets an den Platz kommt im Leben, an dem er am ehesten die Bedürfnisse seines Nächsten trifft, dann hat auch jeder ein Einkommen. Das ist das Reale. Sie können darüber philosophieren, dass jeder Mensch ein „Recht“ auf ein Einkommen habe, oder das Geld ein „Recht“ sei – es muss dann das Einkommen auch real da sein, es muss dem Recht ein realer Wert entsprechen. Und dieses Reale lässt sich nur dadurch bilden, dass wir die Antipode zur Utopie eines staatlich garantierten Einkommens entwickeln.

Auf Recht kann mein Einkommen nur dann beruhen, wenn es das Unrecht eines anderen Menschen ist. Wenn das Recht dagegen etwas ist, das alle Menschen zu Gleichen macht, dann hat das Recht gar keine ökonomische Relevanz, dann ist sein ökonomischer Wert gleich null. Wenn Sie also hergehen, und sagen, der Staat solle Ihnen ein Einkommen garantieren, dann fordern Sie nicht nur eine wirtschaftliche Unmöglichkeit, sondern schaffen zugleich den Rechtsstaat ab. Dann machen Sie den Staat gerade zum Anwalt für das Ungleiche, für Ihr ökonomisches Interesse. Dann muss nämlich irgendwie Ihre Staatsbürgerschaft eine Rolle spielen, wenn Sie zum Beispiel wirtschaftlich mit einem Thailänder in Verkehr kommen. Dann muss das, was der Thailänder Ihnen gibt, nicht allein auf dem Verhältnis von Leistung und Gegenleistung beruhen, sondern zum Teil auch darauf, dass Sie ein Recht haben. Der Thailänder muss Ihnen dann relativ mehr geben, als er geben würde, wenn nur das Leistungsverhältnis ins Gewicht fallen würde. Wenn also Ihr Recht das Unrecht des Thailänders ist, dann haben Sie ein Grundeinkommen. Und so gesehen haben Sie ja schon längst ein Grundeinkommen. Die Bewegung für ein bedingungsloses Grundeinkommen ist eben nur, wie gesagt, der geistige Fortsatz der Missverhältnisse. Wenn, dann müssen Sie das Grundeinkommen schon für die ganze Menschheit fordern, dann müssen Sie sagen: der Mensch an sich hat ein Recht auf Einkommen. Dann merken sie aber sogleich, was damit getan ist, nämlich gar nichts.

Am allerwenigsten begreift man heute das dritte Gebiet, das Rechtsleben. Das Recht verschwindet nämlich in dem Augenblick, da man es mit dem Wirtschaftsleben vermischen will. Was Demokratie in Wahrheit bedeutet, davon hat man am allerwenigsten einen Begriff, gerade weil das Recht für das eingespannt werden soll, was man auch wiederum nicht aus sich begreifen kann, nämlich für die Wirtschaft. Sie müssen das Rechtsleben genau so aus seiner eigenen Wurzel heraus begreifen, wie das Wirtschaftsleben und das Geistesleben. Uns ist leider jetzt die Zeit davon gelaufen, aber ich will doch kurz auf den Quell des Rechtslebens, und damit auf den Boden eines gesunden Staatswesens hinweisen. Stellen Sie sich vor, ich nehme jetzt einen Knüppel und schlage den jungen Mann hier vorne zusammen. Ich habe leider keinen Knüppel zur Hand, deshalb bitte ich Sie, sich das einmal recht bildhaft vorzustellen. Was verbindet uns in diesem Augenblick, was bildet sich da nun wiederum für ein Zwischenraum? Nun, da schießt etwas aus Ihrem Gefühl herauf, und zwar bei allen das selbe. Also, wenn er Glück hat, ist es bei allen oder wenigstens bei einer Mehrheit das selbe Gefühl. Sonst würde er ja umkommen, wenn nicht eine Mehrheit das Gefühl haben würde: es steht dem Menschen im allgemeinen nicht zu, so behandelt zu werden. Nicht wahr, das ist dann etwas ganz Allgemeines, das ist nicht etwa so, dass Sie dafür diesen Herren hier besonders mögen oder gar verstehen müssen. Im Geistesleben ist das Verständnis das Wesentliche, hier ist es das gerade nicht, sondern hier ist das Wesentliche, das etwas ganz Allgemeines herauf schießen kann, und dass Sie darin gerade nicht frei sind, dass dieses Allgemeine einfach da ist, ob Sie wollen oder nicht. Der wäre ja arm dran, wenn Sie erst etwas erkennen wollten, wenn Sie erst miteinander ins Gespräch gehen würden, um herauszubekommen, was von meinem Angriff zu halten sei. Also, da muss durchaus etwas Instinkthaftes wirken können, wenn Recht herrschen soll. Wir haben dafür das schöne Wort Rechtsgefühl, oder auch Rechtsempfinden. Die deutsche Sprache weist uns da schon den richtigen Weg.

Dieses Rechtsgefühl wäre aber keines, wenn es nicht zur Gewalt greifen würde, wenn es also nicht mich ausschließen würde aus Ihrer Runde. Ich bin ja nicht mehr drinnen in diesem Zwischenraum in dem Augenblick, da ich ihn hier schlage. Da werde ich überstimmt. Und da haben Sie den Begriff der Demokratie: Demokratie ist gerade der Ausschluss der individuellen Gewalt, aber eben durch Gewalt. Demokratie haben Sie da, wo alle Gewalt auf dem beruht, was das Rechtsgefühl der Menschen spricht. Das ist etwas ganz Allgemeines, da gleichen sich die Menschen. Aber Demokratie haben wir draußen in der Gesellschaft heute genau so wenig vorhanden wie ein freies Geistesleben oder eine assoziative Wirtschaft. Denken Sie nur mal daran, dass man ja das Recht heute scheinbar kaufen kann. Natürlich kann man das Recht in Wahrheit nie kaufen, da es ja auf dem Rechtsgefühl beruht. Was kauft man denn dann in Wahrheit, wenn man scheinbar Rechte kauft? Die Staatsgewalt. Man privatisiert die Staatsgewalt, wenn man das Recht an Grund und Boden oder an irgendetwas anderem kauft. Wir haben heute wirklich am allerwenigsten das, was man eine Demokratie nennen könnte.

Wenn man die drei Glieder des sozialen Organismus jeweils für sich begreifen kann, dann kann man sie auch menschenwürdig gestalten. Davon wollte ich Ihnen einen ersten Eindruck geben. Wenn nicht, wirken die drei Glieder chaotisch durcheinander, dann greift die Wirtschaft auf das Recht über, und der Staat auf das Geistesleben, dann will sich der freie Geist in der Wirtschaft verwirklichen, und die Brüderlichkeit im Geiste, dann werden die Menschen Lämmer im Geiste. Wirklich spannend wird die Idee der sozialen Dreigliederung erst, wenn Sie die drei Prozesse nicht nur als solche wahrnehmen, sondern in ihrer Wechselwirkung verfolgen können, und insofern wäre natürlich noch viel mehr zu sagen. Aber jetzt freue ich mich auf das Gespräch, wo das eine oder andere ja ergänzt werden darf, und wo wir vielleicht auch dazu kommen, einige praktische Initiativen in dieser Richtung zu besprechen.

Anmerkungen

[1] Die Einwände, die hier sofort entstehen müssen, sind berechtigt. Zum Beispiel: Wie kann man in einem freien Geistesleben sicher sein, nicht an einen Scharlatan zu geraten? Es kommt jedoch darauf an, wegen eines berechtigten Einwands nicht gleich wieder das Geistesleben mit dem Rechtsleben kurzzuschließen, sondern abzuwarten, was aus dem eigenen Einwand wird, sobald man den hier angedeuteten Gedanken zuende gedacht hat. Denkt man sich z.B. eine Universität, in welcher sich der Lehrende nur durch freie Anerkennung seiner Erfolge halten kann, wird sein Wort auch etwas gelten. Und wenn dann ein junger Mensch in ein Krankenhaus kommt und sich als Chirug bewirbt, wird das Krankenhaus fragen können: bei wem haben Sie gelernt? Hat Ihr Lehrer Ihnen eine persönliche Beurteilung ausgestellt? Können wir mal mit Ihrem Lehrer sprechen? Wer da auf das persönliche Wort eines erfahrenen Menschen hinweisen kann, der sagt mehr als jede Note oder jedes "Recht" sagen könnte.

Die freie Anerkennung eines Medizinstudenten kann sich also durchaus in einem freien "Zertifikat" niederschlagen. Nur dass dieses "Zertifikat" dann weder zum Operieren berechtigt, noch für das Recht zu Operieren benötigt wird. Das heisst, wenn der angehende Chirug Menschen findet, die sein Einkommen stellen und sich von ihm operieren lassen möchten, wird das auch ohne die Anerkennung seines Lehrers möglich sein. Diese Freiheit, mit der darin enthaltenen Möglichkeit auch zum Schlechten, ist in der unmittelbaren Beziehung von Mensch zu Mensch durchaus nötig, wenn die Menschheit fortschreiten soll. Denn zum Fortschritt müssen sich auch diejenigen Ideen entwickeln können, die zunächst nicht das Verständnis der alten Lehrmeinungen finden.

Bei einem Führerschein ist es möglich, das Recht, ein Auto zu führen, z.B. von der Sehfähigkeit abhängig zu machen. Das ist aber nur deshalb möglich, weil das Auto von Anfang an gerade nicht irgendeine individuelle Sphäre, sondern den öffentlichen Verkehr, die Rechtssphäre berührt. Man kann deshalb nicht in der selben Weise, wie man das Führen des Autos von der Sehfähigkeit abhängig macht, auch das Recht des Augenarztes, diese Sehfähigkeit zu beurteilen, wiederum von etwas anderem abhängig machen. Denn bei letzterem Urteil betritt man ein rein zwischenmenschliches Verhältnis. Und hier liegt alles Heil in der unmittelbaren Beziehung von Mensch zu Mensch. Da muss durchaus der Arzt in freier Weise seinen Patienten und Kollegen gegenübertreten können, und ausschließlich von deren Wahrnehmungs-Urteil abhängen, nicht aber von einem Dritten. Da muss der Patient Arzt und Arzneimittel in Freiheit bestimmen dürfen, so dass diese Freiheit zugleich den jeweiligen Menschen zum "Arzt", und die Substanz zum "Arzneimittel" ernennt. Hier im Allgemeinen vor-definieren zu wollen, welche Massnahmen z.B. den Krebs irgendwie "im Allgemeinen" heilen, und davon das Recht auf Ausübung des Arztberufes abhängig zu machen, hieße nicht anderes, als auf Heilung zu verzichten.

In Kultur und Wissenschaft muss allein das Urteil entscheiden dürfen, das diejenigen fällen, die wahrnehmend mit dem zu beurteilenden Menschen verbunden sind. Einen Führerschein in dem Sinn, dass auch das Recht auf Führen des Skalpells von irgendeinem Standard abhängig gemacht wird, kann es also nicht geben. Wer sich bei diesem Gedanken vor der Möglichkeit zum Schlechten fürchtet, möge sich vor Augen halten, wie unendlich viel Schlechtes gegenwärtig dadurch geschieht, dass eine abstrakte Norm über die Ausübung des Berufes oder die Wahl der Therapie entscheidet.

Der Kurzschluss, man müsse doch auch auf dem Gebiet des Geisteslebens wenigstens eine Minimalanforderung als Norm einklagen können, beruht auf dem Gaukelspiel des utopischen Denkens. Denn das ist eine Utopie: man könne "Sicherheit" vor der Unfähigkeit des Einzelnen gewinnen. In Wahrheit nimmt die Unsicherheit in dem Maß zu, in dem man sich vor der Freiheit des Individuums glaubt schützen zu müssen. Denn sagen wir, auch der Augenarzt habe ein Recht nötig, um dem Fahrschüler die Sehtüchtigkeit bestätigen zu können. Wer beurteilt dann wiederum die Fähigkeit des Augenarztes? Doch nur einer, der mit dem betreffenden Fahrschüler nicht mehr in unmittelbarer Beziehung steht. Und wer ermächtigt diesen Dritten wiederum, den Augenarzt zu prüfen?

Es ist gar nicht möglich, das Individuum auszuschalten. Es ist lediglich möglich, das "Urteil" so lange weiterzuschieben, bis der Urteilende mit der zu beurteilenden Sache keinen Berührungspunkt mehr hat. Psychologisch stellt sich im Volk dann zwar das ersehnte Sicherheitsgefühl ein. Dieses Gefühl beruht eben darauf, dass die Vertrauensfrage in das menschliche Ich in so abstrakte Höhen verschoben wurde, dass sie unsichtbar geworden ist (und daher unlösbar). Tatsächlich hat die Unsicherheit mit der Entfernung des Urteilenden von der zu beurteilenden Sachfrage jedoch ihr Maximum erreicht. Das Ich, von dem ja trotzdem das Leben abhängt, entzieht sich dann dem zwischenmenschlichen Verhältnis, und ist für das andere Ich nicht mehr greifbar. Es gilt also zu durchschauen, dass der Führerschein zwar vom Sehtest abhängig gemacht, die Fähigkeit des Arztes dagegen nicht mehr ihrerseits von etwas anderem abgeleitet werden kann. Auf der zwischenmenschlichen Ebene muss der Geist vielmehr unmittelbar gefasst werden. Jedes Ausweichen, jedes Suchen nach einer höherstehenden äußeren Instanz ist unmittelbares Ausleben einer alt-ägyptischen oder mittelalterlichen Bewutsstseinsverfassung, mit der praktischen Konsequenz, dass überall das Individuum hinter seinen Fähigkeiten zurückbleiben muss.

In solchen Utopien ergeht sich die soziale Dreigliederung nicht. Dass in einem freien Geistesleben auch einmal ein Unfähiger sich geltend machen wird, soll hier gar nicht geleugnet werden. Es soll nur darauf hingewiesen werden, dass in einem freien Geistesleben auch der Fähige in die Position kommen kann, die ihm entspricht. Und dann muss der Unfähige mit dem Fähigen konkurrieren. Sobald der Staat mit der Definition von "Arzt" oder "Arzneimittel" nichts mehr zu schaffen hat, wird sich der Unfähige nicht mehr erhalten können, indem er z.B. durch Korruption oder Lobbyismus Einfluss auf Staat und Arzneimittelgesetze nimmt. Wer Arzt sein will, wird sich der Allgemeinheit nicht mit Hilfe eines "Rechts" aufzwingen können, sondern muss die Prüfung durch die Menschen bestehen, denen er seine Fähigkeiten angedeihen lassen will. Wer sich die Mühe macht, in diese Richtung den Begriff der Freiheit einmal wirklich zu Ende zu denken, wird einsehen können, warum die Sicherheit gerade bei einem Wegfall des rechtsgültigen "Zertifikats" ungleich größer wird als heute.

[2] Man braucht keine Angst haben, dass das nicht geschehen wird, dass die Menschen zum Beispiel den Raum gar nicht geben möchten, sobald erstmal die äußere Autorität abgeschafft ist. Denn die Menschen werden dann gezwungen sein, sich gegenseitig diesen Freiraum zu geben. Wenn 10 Menschen in einem Raum sitzen und etwas ohne Zwang tun sollen, wird es einfach nicht anders getan werden können als durch die freie Anerkennung. Denn tätig werden kann immer nur der einzelne Mensch. Es kommt also gar nicht darauf an, dass heute zum Beispiel die Waldorflehrer jammern, sie wüssten nicht, wie das gehen kann, dass sie laut Rudolf Steiner nicht nur ohne Rektor arbeiten, sondern gleichzeitig auch alle demokratischen Prozesse ausschließen sollen. Es kommt bloß darauf an, dass sie das auch einmal konsequent tun. Denn erst durch den konsequenten Ausschluss der demokratischen Abstimmung ist auf diesem Gebiet eine reale, in freier Erkenntnis begründete Einigung möglich. Darauf kommt es an, dass man dem Geist die Hürden stellt, die er nehmen muss, wenn er da sein soll im Leben. Dann kann man erst durch eigene Anschauung verstehen, was hier gemeint ist.

[3] Es ist bloß Ausdruck einer persönlichen Liebhaberei, wenn man als Antwort auf die Unterbrechung der individuellen Begegnung durch die Industrialisierung nur immer wieder die Idee eines freien Geisteslebens formuliert. Das freie Geistesleben hat seinen Grund in sich selbst, und muss nicht erst ökonomisch gerechtfertigt werden. Richtig ist, dass das Geistesleben auf das Wirtschaftsleben einwirkt. Das ist jedoch, wie weiter unten entwickelt wird, das Problem, und nicht etwa die Lösung der Wirtschaftsfrage. Richtig ist außerdem auch, dass nur innerhalb eines freien Geisteslebens diejenigen Anschauungen entstehen können, die dann eine Antwort auf die Wirtschaftsfrage ermöglichen. Die Anschauung führt aber eben gerade dazu, die Antwort nun gerade nicht wiederum innerhalb des Geisteslebens geben zu wollen, sondern das Wirtschaftsleben als einen selbständigen Prozess neben dem Geistesleben zu ergreifen. Die sachgemäße Anschauung des Wirtschaftslebens, wie sie innerhalb eines freien Geisteslebens ausgebildet werden kann, führt gerade zu der Einsicht, dass das Wirtschaftsleben selbst nicht auf die selben Kräfte gebaut werden kann, auf die das freie Geistesleben gebaut werden muss. Nur wer das durchschaut, darf mit Recht behaupten, dass ein freies Geistesleben auch für die Wirtschaftsfrage von Bedeutung sei.

[4] Wenn man rein ökonomisch denkt, kommt man zu etwas ganz anderem als zu einer Wettbewerbs-Ideologie. Es macht ökonomisch keinen Sinn, dass ein Staat z.B. Exportweltmeister sein will. Wenn nämlich etwa die Deutschen Ihre Erzeugnisse exportieren wollen, können sie eben deshalb ihr Einkommen auch nur aus dem ziehen, was etwa die Griechen gegenleisten. Das Interesse kann also nur einem ausgewogenen Verhältnis gelten. Da man das nicht durchschaut, und einfach selber der Billigste sein will, ohne die andere Seite der Bilanz zu beachten, zerstört man durch die eigene Billigkeit zum Beispiel die griechische Wirtschaft – auf die man aber selbst aufbaut. In der Folge muss man auf das Recht übergreifen, also auf den griechischen Staat. Dieses Prinzip wird früher oder später notwendig in einen europäischen Krieg führen, da es eben das Prinzip des Krieges ist. Denkt man jedoch rein ökonomisch, kommt man zunächst auf den rein ökonomischen Faktor der Preisbildung. Und dieser Faktor ist das zahlenmäßige Verhältnis, das die in verschiedenen Branchen arbeitenden Menschen zueinander einnehmen. Wenn die Erzeugnisse zum Beispiel der Landwirtschaft im Verhältnis zu den Erzeugnissen der Textilindustrie zu teuer werden, müssen Menschen aus der Textil-Branche heraus und in die Landwirtschaft hinein. Das erhöht unter den jeweils gegebenen technischen Bedingungen der Gesamtertrag der Landwirtschaft, und bringt den Preis im Verhältnis zu den Textilien wieder runter. Dieses Prinzip muss an ungeachtet staatlicher Grenzen verfolgen können, um ein Gleichgewicht herzustellen, und das geht eben nur durch eine assoziative Vernetzung. Versteht man das nicht, will man also zum Beispiel in derselben Situation trotzdem mit weniger Menschen in der Landwirtschaft auskommen, muss man die Landwirtschaft selbst in einem Maß industrialisieren, welches diese gar nicht verträgt. Dann ist man aber früher oder später gezwungen, eine Bodenexpansion zu betreiben, so wie gegenwärtig im Osten oder in Afrika, und kommt also auch international in eine Kriegssituation. Auf die eine oder andere Art folgt immer notwendig der Krieg, wenn die Wirtschaft nicht auf einen selbständigen Boden neben Staatsleben und Geistesleben gestellt wird. Wenn man die Wirtschaft nicht aus sich selbst heraus organisiert, sondern sie mit dem Staat ergreifen will, entgleitet sie und greift dann ihrerseits auf den Staat über.

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