Was ist Recht?

In einer Demokratie ist Recht, was die demokratische Mehrheit setzt. Demnach wären Recht und Gesetz identisch, und ein rechtschaffener Demokrat derjenige, der Gehorsam gegenüber dem Gesetz zeigt. Man sieht also leicht, wo sich bei einer solchen Rechtsauffassung die Katze in den Schwanz beisst. Denn in einer Demokratie setzt eben der Mensch das Gesetz. Woher soll er aber nehmen, was er setzt? Oder anders gefragt – ist die Todesstrafe Recht, sobald sie demokratisch beschlossen wurde?

1. Demokratisch, nicht republikanisch!

Es liegt auf der Hand: Recht leitet sich nicht vom demokratischen Gesetz ab, sondern umgekehrt: das Gesetz muss am Recht gemessen werden. Das heisst, sobald er demokratisch empfindet, ist der Mensch mit der Frage nach dem Recht auf sich selbst zurückgeworfen. Dieser Moment ist einer der tragischsten im gegenwärtigen Sozialprozess. Denn hier macht die materialistische Weltanschauung der Demokratie einen Strich durch die Rechnung. Diese Weltanschauung begreift nämlich alles, was im Innern des Menschen stattfindet, als „subjektiv“. Wird der Mensch also bei der Frage nach dem Recht durch die Logik der Demokratie zu sich selbst zurückgeführt, muss er an dem Recht zweifeln. Schliesslich kann das Recht nicht bloß subjektiven Charakter haben! Also lässt der Materialist das Recht von irgendwoher außerhalb der Menschenwelt kommen wie die kirchliche Moral - von wo genau, will er nicht wissen, denn das brächte ihn ja wieder in berechtigte Zweifel. Der Materialist kommt also notwendig in ein religiöses Verhältnis zum Staat. Oder aber, er erachtet manche wenige Subjekte für rechtschaffener als andere. Dann macht er das Recht zu einer Wissenschaftsfrage und lässt das Gesetz durch eine Elite setzen. Das prinzipielle Problem der Subjektivität verschwindet dadurch natürlich nicht, aber es lässt sich doch der eigene Verstand hinters Licht führen. Und so sind die Deutschen stolz auf ihr BGB, das ihnen im Jahr 1873 von einer Handvoll Wissenschaftler im Auftrag der Grundbesitzer gestiftet wurde. Bis heute achten sie akribisch darauf, dass dieses „Recht“ nicht mit der Demokratie in Berührung kommt, sondern eine Angelegenheit von „Fachleuten“ bleibt. Die Demokratie ist tot, lang lebe die Demokratie!

Wer aufrichtiger Demokrat ist und das Recht weder als vom lieben Gott, noch von einer fachkundigen Minderheit kommend vorstellen kann, muss verzweifeln - oder sich denkend über den Irrtum des Materialismus aufklären. Für eine Weltanschauung, die nicht nur in den materiellen Dingen, sondern auch im Seelenleben des Menschen Objektives kennen lernt, ergibt sich nämlich keineswegs die Notwendigkeit zur Abschaffung der Demokratie. Sie erkennt an, dass verschiedene Subjekte aus ihrem Gefühlsleben einen Inhalt heraufholen können, der deshalb doch keinen subjektiven Charakter an sich selber tragen muss. Der deutsche Sprachgeist ist in dieser Beziehung weiter entwickelt als der Verstand vieler Deutscher, denn nicht zufällig hält er dafür die Worte „Rechtsgefühl“ oder „Rechtsempfinden“ bereit. Diese Ausdrücke verweisen auf ein Etwas, das gefühlt oder empfunden werden kann. Dass gleichwohl „Fühlen“ und „Empfinden“ als Tätigkeiten dem Subjekt angehören, ist kein logischer Einwand gegen die Wirklichkeit des gefühlten und empfundenen Rechts, genau so wenig, wie das Sehen ein Einwand gegen die Wirklichkeit der äußeren Dinge ist.

Wer konsequenter Demokrat ist, findet im Recht einen sich dem Gefühlsleben gebenden und in diesem erschöpfenden Inhalt. Für ihn kommt der Wissenschaft auf diesem Gebiet lediglich die Aufgabe zu, gedanklich zu durchdringen, was das Rechtsgefühl der demokratischen Mehrheit setzt. Niemals aber können seiner Ansicht nach „Fachleute“ Recht schaffen. In Bezug auf das Recht ist jeder Mensch vom Fach, eben dies ist das Wesensmerkmal des Rechts. Diejenigen zwischenmenschlichen Begegnungen zu ermöglichen, durch die in jedem Individuum das Gefühl für das allen Menschen gleiche Recht geweckt werden kann, ist für den echten Demokraten die eigentliche organisatorische Frage beim Aufbau eines Rechtsstaates. Die Rechtsverwaltung hat seiner Meinung nach dann bloß noch dasjenige als Gesetz zu vertreten, was sich in einem so verstandenen demokratischen Prozess als der allen Menschen gleiche Gefühlsinhalt offenbart. Und nichts Geringeres verlangen Stuttgart 21 und Occupy-Bewegung: die Anbindung der polizeilichen und militärischen Gewalt an das Objektive im Gefühlsleben der heute lebenden Menschen - an das demokratische Recht.

2. Die heimliche Verfassung

Bereits während der Entstehung des Nationalstaates hatte sich die polizeiliche und militärische Gewalt vom demokratischen Rechtsgefühl gelöst und stattdessen mit dem Geistesleben verbunden. Bis ins Einzelne lässt sich dieser Prozess in der Geschichte der westlichen Staaten nachweisen. In den frühen Gesellschaften Europas war zunächst eine Arbeitsteilung entstanden zwischen Bauern und Kriegern. Als Rechtsgrund für den Besitz des Bodens wurde die Fähigkeit des Bauern erachtet, die Menschen zu ernähren. Dafür wurde er beschützt. Und die Bauern zahlten umgekehrt Steuern für die Versorgung ihrer Beschützer, für die Aufrechterhaltung der „Staatsgewalt“. Rechtsgrund für die Steuer war das tatsächlich ausgeübte Amt, also der Schutz der Bauern. Als jedoch einzelne Fürsten ihren Machtbereich ausweiteten und die Territorialstaaten entstanden, mussten die Bauern, was zu ihrem Schutz nötig war, nun an diese Territorialfürsten abführen. Aber auch die ehemaligen Krieger beanspruchten weiterhin die Abgaben für sich. Ein Rechtsgrund war für ihren Anspruch nicht mehr gegeben, denn das Amt übte nun ein anderer aus. Inzwischen hatte sich allerdings eine Wissenschaft gebildet, welche die alten römischen Gesetze studierte. Und die Gelehrten des römischen Rechts verehrten die römischen Gesetze als „ratio scripta“, als „geschriebene Vernunft“. In der „geschriebenen Vernunft“ der Römer wurde nun derjenige, der die Abgabe erhielt, als „dominus“ bezeichnet, und der Boden mitsamt der Bauern, welche die Abgaben erbrachten, als „dominium.“ Auf diese geschriebene Vernunft verwiesen die arbeitslos gewordenen Krieger. Sie sagten: da steht, wir bekommen die Abgaben, weil wir das „dominium“ haben! In diesem Moment wurde zum ersten mal das „Recht“ nicht mit dem Rechtsgefühl, sondern mit einer Phrase begründet. Die Geschichte der Menschheit erlebt hier einen ihrer tragischsten Momente. Die neuen Amtsinhaber folgten nämlich tatsächlich der theoretischen Begründung durch die „Rechtsgelehrten“. Wie es die Wissenschaft verlangte, beschützen die Territorialfürsten diejenigen, die das „dominium“ zu haben glaubten, gegen die Bauern und gegen die wirtschaftlichen und kulturellen Interessen der Gemeinschaft. Die Bauern wurden einfach gezwungen, von nun an neben der Steuer an die Territorialfürsten auch die alten Abgaben an ihre „Grundherren“ abführen. Laut Gesetz besaßen letztere ja nun ein „dominium“. Die fortgeführte Abgabenzahlung für das „dominium“ erscheint dann als „Grundrente“, woraus sich im 16. Jahrhundert durch monetäre Abstraktion dann der „Gewinn“ in seiner heutigen Gestalt entwickelt. Wesentlich handelt sich bei diesem Gewinn auch heute noch um eine eine Leistung, die nicht durch eine Gegenleistung begründet ist, sondern durch ein theoretisches „Recht“. Im Jahr 1783 beauftragte der Stand der Grundbesitzer, der sich so aus den ehemaligen Kriegern entwickeln konnte, eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern damit, den Deutschen ein Gesetzbuch zu schaffen. Das Spezialgebiet dieser Fachleute waren die „Pandekten“, also das 533 nach Christus kodifizierte, weitgehend vorchristliche römische Recht. Die „Pandektenforscher“ übertrugen nun die römischen Gesetze in ihr „Bürgerliches Gesetzbuch“, das BGB. Das Wort „dominium“ übersetzten sie dabei schlicht mit „Eigentum“. In seinen Grundbegriffen hat sich das BGB seither nicht geändert. Und wo es sich ändert, geschieht dies auf dem selben Weg: Durch Beschluss eines kleinen Kreises von „Fachleuten“.

Unser heutiges Gesetz ist das zum wissenschaftlichen Gedanken erstarrte Gefühlsleben einer längst vergangenen Gesellschaft. Und darum kollidiert es mit dem Recht. Ein objektives Recht ist nämlich durchaus da. Es ergibt sich aus dem, was eine Mehrheit der heute lebenden Menschen real füreinander fühlen kann in Bezug auf das Allgemeinmenschliche. Lediglich eine „Demokratie“, welche die Staatsgewalt auch an das demokratische Recht anbindet, ist noch nicht geschaffen.

3. Das Herz der Demokratie

Das Rechtsgefühl auch der in Deutschland lebenden Menschen spricht immer deutlicher eine andere Sprache als das Gesetz. Es spricht zum Beispiel: rechtmäßiger Besitzer von Grund und Boden ist derjenige, der diese im Interesse der Allgemeinheit zu nutzen weiß. Solange man bloß das Rechtsgefühl zu Grunde legt, und nicht irgendeine Theorie, liegt also der Rechtsgrund für Eigentum in der Verbindung von individueller Fähigkeit und wirtschaftlicher oder kultureller Leistung. Polizeilichen Schutz kann demnach genießen, wer wirklich etwas zu verteidigen hat, wer also die betreffende Sache auch tatsächlich besitzt, weil er sie real nutzt im wirtschaftlichen oder kulturellen Interesse der Gemeinschaft. Einen „Eigentümer“ in dem Sinn, dass er über ein „Genussrecht“ an dem Ertrag der Leistung des tatsächlichen Besitzers einer Sache verfügt, kann es dann nicht geben. Eigentum und Besitz fallen zusammen. Dieses Gefühl ist auch ganz natürlich: auf der begrenzten Erde sind alle Menschen abhängig von der Verbindung der individuellen Fähigkeit eines bestimmten Menschen mit einem konkreten, durch die Bedürfnisse der Gemeinschaft gesetzten Zweck. Das Gefühl dafür, wer rechtmäßiger Besitzer einer Sache ist und wer nicht, muss sich daher in Zukunft auch im Eigentumsrecht niederschlagen können. Die Staatsgewalt wird dann eine Wirkungsrichtung entfalten, die ihrer heutigen entgegengesetzt ist: Sie wird in dem Augenblick eingreifen, da ein Mensch den Ertrag der Arbeit eines anderen Menschen beansprucht, ohne die geforderte Gegenleistung zu erbringen, anstatt umgekehrt. Sie wird also gerade verhindern, dass irgendwo ein Einkommensanspruch aus einer bloß theoretischen Eigentümerschaft entstehen kann. „Eigentum“ wird niemals etwas anderes sein als der Schutz des Staates für denjenigen, der mit der betreffenden Sache tatsächlich verbunden ist und sie im Interesse der Gemeinschaft nutzt. Damit verweist ein demokratisches Rechtsleben einerseits auf ein selbständiges, freies Geistesleben, innerhalb dessen gefunden werden muss, wer fähig ist, und andererseits auf ein autonom verwaltetes Wirtschaftsleben, innerhalb dessen gefunden werden muss, was konkret und aktuell dem Wohl der Allgemeinheit dient. Ein demokratischer Staat wird weder die Fähigkeit definieren können, so wie es der heutige Unrechts-Staat etwa durch ein staatlichen Bildungssystem versucht, noch wird er in das Wirtschaftsleben hineinreden dürfen. Er wird aber den Arbeiter davor schützen, seine „Arbeitskraft“ an einen angeblichen „Eigentümer“ eines Produktionsmittels verkaufen zu müssen, er wird das Gesundheitswesen vor den Kosten durch „Patentrechte“ schützen, und er wird den Bewohner eines Hauses davor schützen, eine über die Betriebs- und Instandhaltungskosten hinausgehende „Miete“ an einen „Vermieter“ zahlen zu müssen. Er wird das Recht verteidigen anstatt einzelne Interessen des Geisteslebens oder des Wirtschaftslebens.

Durch Kauf lässt sich ein im Rechtsgefühl einer demokratischen Mehrheit begründetes Eigentumsrecht nicht übertragen. Eine einfache Überlegung kann hier Klarheit bringen: Ein bestimmter Landwirt mag den Schutz der demokratischen Mehrheit genießen, weil er den Boden am ehesten im Interesse der Gemeinschaft zu nutzen weiß. Diese Gemeinschaft wird jedoch nicht automatisch auch denjenigen schützen, der eines Tages den Schutz durch die Mehrheit von dem Landwirt abkaufen will. Denn ob der Nachfolger des Landwirts ebenfalls die Mehrheit auf seiner Seite hat, hängt wiederum von dem durch das Wohl der Gemeinschaft definierten Nutzungszweck der Sache und der Fähigkeit des neuen Besitzers ab, diesem Zweck zu entsprechen. Wenn also heute scheinbar Rechte gekauft werden, scheinbar gehandelt werden, so geschieht das nicht real. Es ist gar nicht möglich, durch Bezahlung des Vorbesitzers auch das Recht zu erhalten. Denn das Recht hat seine selbständige Grundlage im Gefühlsleben der Menschen. In einer vor-demokratischen Gesellschaft ist es allerdings möglich, dass ein Einzelner durch Kauf die staatliche Gewalt auf seine Seite zieht. Nur das ist real möglich. Sobald vermeintlich ein „Recht“ gehandelt wird, ist das Reale die Übertragung der Staatsgewalt auf eine Privatperson, denn das Recht selber wandert niemals im äußeren Raum umher. Weil wir das Recht nicht in seiner selbständigen Grundlage fassen, nämlich im Gefühlsleben der Menschen, sondern es zu einer Frage des Geisteslebens machen, kann es in einem zweiten Schritt auch vom Wirtschaftsleben ergriffen und mitgerissen werden. In Wahrheit zirkuliert dann aber nicht irgendein Recht im Warenkreislauf, sondern die Staatsgewalt selbst. Die Staatsgewalt ist damit dem demokratischen Recht entzogen. Sie ist privatisiert.

Während der Entstehung des modernen Staates löste sich die polizeiliche und militärische Gewalt vom Rechtsgefühl der Menschen. Der Kauf eines „Rechts“ vollzieht, was in der Grundverfassung des modernen Staates angelegt ist: die Ablösung der Staatsgewalt von der Demokratie. Auf diese anti-demokratische Grundvoraussetzung bauten dann alle weiteren Demokratisierungsprozesse auf, so dass dasjenige, was man heute eine demokratische Verfassung nennt, bloß aufgesetzt ist auf eine ganz andere Verfassung. Diese „heimliche Verfassung“ hat ihre Wurzel in der Verwissenschaftlichung des Rechts. Das Recht ist heute nicht da, weil es Theorie geworden ist. Und das fühlen die Menschen, die jetzt in vielen Ländern dieser Erde auf die Straße gehen. In den Revolutionen der Gegenwart, sofern sie nicht inszeniert sind, äußert sich das Rechtsgefühl. Denn das Rechtsgefühl muss, wenn es nicht die Staatsgewalt unter sich hat, gegen diese revoltieren. Wenn in Zukunft nicht schlimmere Revolutionen den Frieden erschüttern sollen, müssen andere Wege gefunden werden, wie die Staatsgewalt dem Rechtsgefühl der heute lebenden Menschen verantwortlich gemacht werden kann.

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