Volkskultur und Staat

"Deutschland ist nichts, aber jeder einzelne Deutsche ist viel, und doch bilden sich letztere gerade das Umgekehrte ein. Verpflanzt und zerstreut wie die Juden in alle Welt müssen die Deutschen werden, um die Masse des Guten ganz und zum Heile aller Nationen zu entwickeln, das in ihnen liegt." J. W. Goethe

Sehr verehrte Anwesende,

Im vergangenen Jahr konnten wir beobachten, wie die Menschen in den verschiedensten Ländern, in den scheinbar gegensätzlichsten Kulturen aufstanden und sich bekannten zu ihrem Menschsein über alle Ländergrenzen, über alle kulturellen Unterschiede hinweg. In Ägypten, in Spanien, in Tunesien, in Syrien, in Israel, Griechenland, ja auch in England sind die Menschen auf die Straße gegangen. In Israel sind sie auf die Straße gegangen, sind in Camps gezogen, und von dort konnten wir hören: wir fühlen mit unseren Brüdern und Schwestern in Ägypten, Libyen und Syrien, denn sie sind Menschen wie wir. Wir sind alle Menschen, aber wir können nicht als Menschen leben auf dieser Erde, weil wir unser Zusammenleben, das soziale Leben, das, was zwischen Menschen hin und her geht, so gestaltet haben, dass darinnen ein Mensch als Mensch nicht leben kann. Ob Kapitalist, ob Arbeiter, wir sind alle Menschen, aber wir haben unserem Zusammenleben eine Gestalt gegeben, in der ein Mensch nicht als Mensch leben kann, in der er seine Menschenwürde verlieren muss. Das war eine umfassende Kritik überhaupt an der Art, wie wir Menschen über die ganze Erde hinweg zusammenleben. Und das ist das Neue an dieser Revolution, die sich da in ihren Anfängen zeigt, denn hier kündigt sich jetzt etwas an, das viel weiter geht als alles, was bisher da gewesen ist. Denn wie äußert sich dieser umfassende Geist, dieser Ausdruck des reinen Menschenwesens? Er äußert sich als absolute Ideenlosigkeit. Das ist das, was mir so große Hoffnungen gibt, dass diese Revolution absolut keine Ideen hat, wie es gehen soll. Natürlich, schon scharen sich die verschiedensten Gruppierungen um den Herd der Revolution, die amerikanischen Thinktanks, die Marxisten und wie sie alle heißen, und streuen ihre Ideen, legen ihre Rezepte den Revolutionären in den Mund. Aber das ist nicht die Stimme dieser Revolution. Diese Revolution ist absolut Ideenlos, und das unterscheidet sie von allen bisher da gewesenen. Wie waren die 68er zum Beispiel, was war da los? Da haben sich die Menschen erst die Köpfe zerbrochen, und dann hat jeder sein Lieblingsrezept für das Zusammenleben mitgebracht zur Revolution, freie Liebe, Bewusstseinserweiterung, Staatswirtschaft und so weiter. Diese Revolution jetzt in der arabischen Welt, in Israel, in Spanien, in England, ist anders, die ist viel größer, viel, viel weiter gedacht, als dass sie sich in irgendeiner Idee erschöpfen könnte. Dieser Geist ist umfassend. Er sagt nur: Ich bin ein Mensch. Ich weiß nicht, wie es gehen soll, aber ich bin ein Mensch, und deshalb werden wir einen Weg finden müssen. Da spricht nicht eine Idee, nicht eine Utopie, sondern da spricht der Mensch selber. Sehen Sie hin, wie war das in Spanien? Da haben die Menschen gerufen: geht nicht wählen! Das war die Forderung, nicht wählen zu gehen, weil alle wussten, dass sich der allgemeine Menschengeist nicht in irgendwelche Programme quetschen lässt, nicht mehr in Programme quetschen lassen darf, wenn er einen Weg finden soll.

Ich sagte, wir konnten das beobachten, aber das ist natürlich nicht ganz korrekt, denn von wo aus haben wir das beobachtet, wo war unser Beobachtungsstandpunkt? Der lässt sich ziemlich exakt bestimmen, das war nämlich 2 Meter vor dem Bildschirm, auf dem Sofa. Das war unser Beobachtungsturm, das Sofa, da sind wir drauf gesessen, und haben in Richtung einer Maschine gesehen. Diese Maschine hat uns Bilder gegeben, wie wir annehmen dürfen, aus Ägypten, Spanien, Israel und so weiter. Durch die Technik hindurch haben wir das beobachtet, haben wir zugeguckt, wie die Menschen auf die Straße gingen, wie in Japan Menschen verzweifelt ihre Verwandten suchten, wie in Libyen Menschen aufeinander schossen. Das wurde eingespielt, da lief irgendein Einspielfilm, zum Beispiel aus Japan, da sah man, wie das Kernkraft brannte, wie die Menschen schreiend umherliefen und sich zu retten suchten. Und wenn der Film fertig war, dann konnten wir den Moderator sehen, der schaute dem Film noch ein Weilchen nach – Sie wissen, so wie das vor einigen Jahren vom amerikanischen Fernsehen übernommen wurde, der Moderator schaut dem Einspielfilm nach und schüttelt den Kopf und sagt dann irgendwas spontanes, zum Beispiel „schlimm“ oder so – und dann guckt er direkt in die Kamera, schaut Sie an, und Sie schauen ihn an, durch die Maschine hindurch, und dann fragt er was. Was fragt er dann? Er fragt: „Ist das auch bei uns möglich?“ Da blitzt die Realität durch, da ist auf einmal alles Trennende, alles Teilende da hinter der Illusion der einen Welt. In Japan brennt ein Atomkraftwerk – ist das auch bei uns möglich? In England gehen die Kinder auf die Straße – ist das auch bei uns möglich? Dann kommt der Experte, und sagt: Nein, bei uns ist das natürlich nicht möglich, oder wenn doch, müssen wir diese oder jene Tabletten dagegen nehmen.

In der Revolution kündigt sich der allgemeine Menschengeist an, der Mensch, der jeder ist, ob er als Ägypter oder als Israeli auf der Erde ist, und die erste große Hürde, die dieser Menschengeist zu nehmen hat, ist die Illusion, dass in der Realität schon etwas Verbindendes da ist durch die Technik. Denn dieses scheinbare Zusammenwachsen der Welt über die Technik ist eine furchtbare Illusion. Und diese Illusion fliesst ja selbst überall ein in die Revolution. Ohne Facebook, ohne Twitter und so weiter ist diese Revolution undenkbar. Und deshalb müssen wir uns schon fragen, was hier wirklicher verbindender Geist, und was bloßer Apparat ist, was hier wirklich individuell durchdrungener, in innerer Anstrengung hervorgebrachter, gewollter Menschengeist, und was Illusion, Vortäuschung eines Menschengeistes ist. Das müssen wir sehr genau prüfen, wir müssen abklopfen, was da wirklich trägt, und was bloß der Langweile in der Straßenbahn entsprungen ist, weil man halt irgendwas getwittert hat.

Ich meine das nicht moralisch, ich rede jetzt nicht von Moral. Es ist mir ganz wichtig, dass Sie mich da richtig verstehen: Ich rede niemals von Moral, auch heute nicht. Mich interessiert, wie die Erscheinungen des menschlichen Zusammenlebens miteinander zusammen hängen, wie diese sich gegenseitig bedingen, und wie das wiederum auf den Einzelnen wirkt. Die objektiven Zusammenhänge interessieren mich, nicht die Moral. Die Moral ist für mich das, wovon man in sozialer Beziehung gar nicht sprechen kann, weil das eben jenseits des sozialen Lebens liegt, nämlich im aller intimsten des Menschen. Darüber will ich nicht sprechen, wenn, dann in einem sehr, sehr viel intimeren Zusammenhang als es so eine öffentliche Veranstaltung ist. Vor der Öffentlichkeit will ich aber nur von Objektiven sprechen. Es kann natürlich sein, dass ein klarer Gedanke in Bezug auf die objektiven Zusammenhänge das moralische Empfinden anregt, aber dieser Prozess liegt dann jenseits von allem, was irgendwie diskussionswürdig ist. Ich bin sogar überzeugt von dem Folgenden: die Tatsache, dass überall von der Moral geschwätzt wird, dass heute jeder nur die Moral sieht, natürlich am ehesten die des anderen, der Spekulanten oder so, dieses Geschwätz über die Moral ist eine Hauptursache dafür, dass die objektiven Zusammenhänge verschleiert sind, dass kein wissenschaftlicher Geist in die Sozialwissenschaft einziehen kann. Deshalb können aber auch die Gedanken nicht gefunden werden, die dann auf die Moral wirken, weil sie das wirkliche Bindeglied zu dem sozialen Leben sind.

Für ein denkendes Wesen müssen das zunächst zwei paar Schuhe sein, die Tatsachen und die Moral. Und eine Tatsache ist es eben, dass wir seit über 2000 Jahren vom Mitgefühl reden, es aber bisher noch nicht geschafft haben, dieses Mitgefühl tatsächlich in uns zu entwickeln. Wir brauchen doch nur ehrlich zu sein zu uns selber, und wenn jeder von uns ehrlich ist, brauchen wir uns auch nicht voreinander zu genieren. Wie ist das denn mit unserem Mitgefühl? Wir sehen im Fernsehen die brennenden Reaktoren, sehen die Menschen leiden, und wie steigt in uns das Gefühl auf? Über den Umweg des Gedankens, dass das ja wir selber sein könnten, dass das unsere Tochter sein könnte. Wir malen uns das aus, wie das wäre, wenn das unser Kind trifft, wenn das Schreckliche mit uns selber geschieht. Und da erst regt sich dann das Gefühl. Wir treiben eine Analogie auf uns selber, da regt sich das Gefühl, und das Gefühl mit uns selber nennen wir dann Mitgefühl. Aber eigentlich haben wir nur ein Mitgefühl mit uns selber. Wir sind noch gar nicht dazu gekommen, mit dem anderen zu fühlen, so wie er wirklich da ist, da draußen in der Welt, in seinem ganz besonderen, einmaligen Leben. Das können wir noch gar nicht.

Auf der anderen Seite leben wir ja trotzdem auf der Welt mit allen anderen zusammen. Und dieses Zusammenleben ist nun so geworden, dass der Mensch unmöglich auf der Welt sein kann, wenn er kein echtes Mitgefühl für den anderen hat. Dadurch kommt der Mensch in einen furchtbaren Widerspruch mit sich selbst. Er ist einerseits nunmal da auf der Erde, aber auf der anderen Seite ist dieses Dasein davon abhängig, dass er hier auf der Erde etwas entwickelt, was er noch gar nicht hat, was er erst entwickeln muss, wovon er aber nicht weiß, wo es herkommen soll. Wenn Sie das zusammennehmen, dass der Fortbestand der Menschheit vom Mitgefühl mit der anderen Individualität abhängt, der Mensch aber nur sich selber fühlen kann, dann haben Sie das Urphänomen des heutigen sozialen Lebens erfasst. Von diesem Urphänomen können Sie eigentlich alles weitere ableiten. Da sehen wir, in welche entsetzliche Lage der moderne Mensch gekommen ist, in eine Lage, in der sein eigenes Leben ein Selbstwiderspruch ist, sich selber aufhebt, wenn es nicht von irgendwoher ein anderes Leben wird.

Es ist schwer, so einen Gedanken anders zu verstehen als moralisch, weil wir eben das Moralisieren bis ins Sinnlose geübt haben. Aber ich rede nicht von Moral, sondern von einem objektiven Zusammenhang, der auch ganz äußerlich greifbar ist, wenn Sie einmal an sich selber herabsehen. Sehen Sie auf Ihre Schuhe, Ihre Hosen, Ihr Hemd, wie kommen Sie denn dazu? Sie kommen dazu durch die Zusammenarbeit der ganzen Welt. Die Menschen in der ganzen Welt arbeiten zusammen, geben ihre Lebenszeit hin, damit Sie da sein können in der Welt. Bedenken Sie nur den winzigen Ausschnitt, bedenken Sie, wie Sie heute hierher gekommen sind. Vielleicht sind Sie mit der Straßenbahn gefahren. Denken Sie daran, wie deshalb, weil Sie hierher mit der Straßenbahn gefahren sind, in Brasilien ein Mensch aufsteht und hinuntergeht in den Berg, in den Schacht hinein, um das Eisenerz zu Tage zu fördern, wie es ein anderer dann zum Hafen bringt, wie ein anderer es über das Meer fährt, vielleicht nach Holland, wo andere an den Hochöfen stehen und es weiter verarbeiten zu dem Stahl, den dann wieder andere zu der Straßenbahn verarbeiten, die es uns jetzt ermöglicht, hier zusammenzukommen und über das soziale Leben nachzudenken. Und die müssen ja auch alle essen, vergessen Sie nicht, wie viele Menschen dafür Getreide anbauen mussten, weil ja der Stahlarbeiter wiederum essen musste und so weiter. So bewirkt die Arbeit der ganzen Menschheit zusammen, dass wir hier zusammenkommen und über das soziale Leben nachdenken können. Eine solche Betrachtung kann in uns die rechte Einstellung für das Nachdenken über das soziale Leben wachrufen, kann vielleicht ein Gefühl der Verantwortung erzeugen für das, was wir jetzt zusammen denken, kann uns ein Gefühl dafür geben, welche Verantwortung wir gerade auch für das Denken haben, wie wenig Recht wir im Grunde haben, unsere Meinungen und moralischen Urteile einfach durcheinander gehen zu lassen, wie es ihnen selber gefällt.

Man kann ja alles mögliche denken über die Wirtschaft, man kann die verschiedensten Meinungen und moralischen Urteile haben, aber eine Tatsache ist es doch wenigstens, dass es eine Weltwirtschaft ist. Und wenn Sie das einmal sachlich durchdenken, dann sehen Sie, wie wir uns eigentlich alles Moralisieren sparen können, wenn wir uns nur einmal auch für die äußeren Tatsachen interessieren. Wir haben heute eine Weltwirtschaft. Und dass wir eine Weltwirtschaft haben, sehen Sie objektiv daran, dass Sie kein Ding in diesem Raum finden werden, das nicht durch die Zusammenarbeit aller Menschen auf der ganzen Welt hervorgebracht und in diese Raum hinein befördert wurde. Sie können irgendein Ding herausgreifen, Ihre Schuhe, den Tisch, die Lampe, das Brot – Sie kommen, wenn Sie nur sauber denken, zurück auf die Arbeit der ganzen Erdbevölkerung. Und deshalb können Sie heute nichts mehr für sich selber tun. Sie können heute nur noch etwas für andere tun, das hat dann seine Auswirkungen in die ganze Welt hinein. Aber Sie können nichts zum Erhalt Ihres Lebens tun, sondern Ihre Existenz wird vollständig bewirkt durch das, was andere Menschen in der ganzen Welt für Sie tun. Wirtschaftlich gesehen natürlich. Und alles, was Sie tun, ob Sie jetzt ein Tischler, ein Autobauer, ein Designer oder ein Lehrer sind, das bewirkt die Existenz anderer Menschen, unmittelbar und auch mittelbar, weil das ja wieder in die weitere Wertbildung einfliesst und so letztendlich in die ganze Welt aufgeht. Aber Ihre eigene Existenz können Sie nicht bewirken, da sind Sie heute restlos ausgeliefert. Doch wie denken wir? Wir denken, wir arbeiten für unser Einkommen. Wir gehen arbeiten, 8, 10 oder 12 Stunden täglich, und glauben, nicht wissen zu müssen, wo das Erzeugnis unserer Arbeit hingeht, welche Wertbildungen es im weiteren Wirtschaftsprozess erfährt, wie genau es hineinläuft in die Weltwirtschaft, sondern wir sehen auf den Lohn, der dann scheinbar aus unserer Arbeit herauskommt. Wenn wir dann älter werden und es handgreiflich wird, dass unser reales Einkommen niemals unserer Arbeit entspringt, sondern der Arbeit anderer Leute, was tun wir da? Wir kaufen zum Beispiel Gold, das Gold soll uns dann ernähren, und bauen Scheinwert auf Scheinwert, aber Dahinterkommen hinter die Illusion der Erwerbsarbeit, das schaffen wir nicht.

Ich will deshalb, dass wir jetzt einmal daran denken, wovon unser Leben real abhängt. Nehmen wir irgendetwas, das unseren Leib erhält, zum Beispiel den Reis, den Sie heute gegessen haben. Unser Leben hängt dann real davon ab, dass in Thailand ein Bauer an einer bestimmten Stelle steht, den Rücken krumm macht und Reis anbaut. Und jetzt denken Sie bitte radikal egoistisch, denken Sie nur dran, dass Sie den Reis haben wollen, möglichst viel davon. Wir müssten also ein egoistisches Interesse daran haben, dass der Bauer da steht und das tut, was er tut. Wenn er etwas anderes tut, dann ist weniger Reis da, dann wird es teuer, und irgendwann bekommen wir Hunger. Wir sind, wenn Sie jetzt weiter denken, davon abhängig, dass es eine ganz bestimmte Anzahl von Reisbauern in Thailand gibt, eine bestimmte Anzahl von Bergarbeitern in Brasilien, eine bestimmte Anzahl von Konstrukteuren in den USA, und so weiter. Und wenn wir jetzt einmal wirklich radikal egoistisch denken, also nicht nur halbherzig, sondern wirklich das Herz haben, uns auf einen absolut egoistischen Standpunkt stellen, wenn wir nur denken: was ist nötig, dass wir selber am besten Leben können, dass unser eigener Leib erhalten werden kann – dann müssen wir sagen: dazu ist nötig, dass genau so und so viele Menschen in den jeweiligen Branchen, über die ganze Erde hin, verteilt sind, und nicht mehr und nicht weniger. Denn was passiert, wenn jetzt zum Beispiel Menschen von der Landwirtschaft abwandern in die Baubranche, wie das in in Spanien geschehen ist? Dann sind zu viele Häuser da, und zu wenige landwirtschaftliche Erzeugnisse. Und dann bekommen alle ein Problem. Also wenn Sie einmal radikal egoistisch denken, dann müssen Sie ein Interesse daran haben, dass genau so viele Menschen an der einen, und genau so viele Menschen an der anderen Stelle stehen im Wirtschaftsprozess. Wie viele es genau sein müssen, das bestimmen natürlich die Bedürfnisse. Und deshalb dürfen wir fragen: was ist denn die Voraussetzung dafür, dass der Bauer in Thailand an dieser Stelle steht und eben Reis anbaut und nicht etwas anderes tut? Die Vorraussetzung ist, dass er für den Reis, den er für uns erzeugt, umgekehrt von uns das bekommt, was er zum Leben braucht. Wir müssen für ihn das, was er braucht, erzeugen, durch die Arbeit unserer Hände, denn sonst kann er nicht an dieser Stelle stehen und Reisbauer sein, sonst muss er zuerst den Reis selber aufessen, er kann ihn ja dann nicht mehr an uns abgeben, und schließlich wird er abwandern. Was muss dann aber unsere Arbeit bestimmen, wenn wir wollen, dass der Bauer da ist, worauf müssen wir uns konzentrieren? Auf das Bedürfnis des Bauern. Wir können darüber nicht moralisieren, wir müssen es nehmen, wie es ist, und in bester Weise unsere Tätigkeit an dem Bedürfnis dieses Bauern orientieren. Und da haben wir etwas ganz eigentümliches, vielleicht haben Sie es bemerkt: wir können gar nicht egoistisch denken in der Wirtschaft, denn wenn wir wirklich egoistisch denken, kommen wir an den Punkt, an dem der Egoismus verschwindet. Natürlich können Sie sagen, wenn Sie dann den Reis aufessen, tun Sie das für sich selber, aber die Tatsache, dass der Reis da ist, verdanken wir dem Umstand, dass wir nicht für uns selber, sondern für den Reisbauern gearbeitet haben, bzw. für einen anderen, der dann wiederum für den Reisbauern gearbeitet hat, das geht natürlich unter Umständen über viele Ecken in einer Weltwirtschaft. Aber es wird um so mehr Reis für uns da sein, desto entschiedener wir in unserer Arbeitszeit ganz von uns absehen, und unsere Tätigkeit ganz von dem Bedürfnis eines anderen Menschen bestimmt sein lassen, uns wenigstens für eine gewisse Stundenzahl ganz vereinnahmen lassen von dem Bedürfnis eines anderen Menschen.

Das können Sie aber geradezu als Hauptgesetz des Wirtschaftslebens aufstellen: Wenn Sie Ihren Leib erhalten wollen, dann müssen Sie ihn heute in unegoistischer Weise erhalten. Weil wir eine Weltwirtschaft haben, ist der Mensch gezwungen, seinen Leib auf dieser Erde auf dem Weg zu erhalten, dass er sich, wenigstens für ein paar Stunden am Tag, für diesen Leib und seine Bedürfnisse nicht interessiert, sondern sich nur um den Erhalt des Leibes des anderen Menschen kümmert, die eigene Existenz aber umgekehrt ganz dem anderen anvertraut. Das ist die Logik der Wirtschaft.

Das halten wir natürlich aus, so ausgeliefert zu sein, und verkrampfen uns vor lauter Angst noch tiefer in unseren eigenen Leib, in unseren Egoismus. Das ist verständlich, aber nicht gerechtfertigt. Denn der Egoismus ist genau gegenläufig zur Wirtschaftslogik. Und in die Richtung der Wirtschaftslogik müssen wir doch denken, wenn wir herausfinden wollen, wie der Einzelne Sicherheit gewinnen kann, oder etwa nicht? Das ist ja die drängende Frage, wenn man die Angst ernst nimmt: wie kann ich Sicherheit gewinnen? Und es ist ja klar: wir müssten die Logik der Wirtschaft mitvollziehen. Wir müssen logisch denken im Sinne der Wirtschaft. In welche Richtung müssen wir denken, wenn wir die Grundtatsache des Wirtschaftslebens im Bewusstsein haben und die Sicherheitsfrage stellen, wenn wir uns fragen: wie kann der Einzelne die maximale Sicherheit haben, dass er morgen noch sein Brot hat, dass auch morgen alle seine Bedürfnisse befriedigt werden? Nun, wir müssen umgekehrt denken. Wir müssen bemerken, dass durch die Weltwirtschaft diese Frage gleichbedeutend geworden ist mit der anderen Frage: Wie kann jeder Mensch genau an den Platz kommen im Leben, an dem er gemäß seiner Fähigkeiten am besten für die Bedürfnisse seiner Mitmenschen arbeiten kann?

Daran denken wir heute am allerwenigsten, wir denken am allerwenigsten in Richtung der Wirtschaftslogik, wenn wir die Wirtschaft anfassen wollen, sondern in der Praxis denken wir dann gerade gegen die Wirtschaftslogik. Wir wenden uns ja nicht etwa gegen den Egoismus in uns, nein, im Gegenteil: Wir verbrüdern uns als Egoisten mit dem Egoisten neben uns zu einem Egoistenclub, weil wir in der Gruppe stark sind, und suchen so durch Macht zu ersetzen, was wir als Fähigkeiten ausbilden müssten. Wir weiten den Egoismus noch aus, wir multiplizieren den Egoismus, und dieser zum Gruppenegoismus verstärkte Egoismus, das ist der Staat, das ist heute überhaupt das politische Element geworden. Schauen Sie zum Reichstag. Was geschieht da drinnen? Da kämpfen die Vertreter der verschiedenen wirtschaftlichen Interessengruppen miteinander. Das Parlament ist heute im wesentlichen der Schauplatz der Kämpfe verschiedener wirtschaftlicher Interessen. Oder wie kommt man hinein in das Parlament? Indem man den Menschen verspricht, mehr in ihren Geldbeutel hinein zu befördern. Davon hängt es ja im wesentlichen ab, ob ein Politiker gewählt wird. Wenn Sie deshalb das Politische seinem Wesen nach charakterisieren wollen, müssen Sie sagen: es ist der Versuch, die staatliche Gewalt für den persönlichen Egoismus zu instrumentalisieren und so einen Zustand zu erreichen, in dem man nicht mehr wirtschaftlich, nicht mehr altruistisch denken muss, weil man die Macht hat. Sehen Sie hin, wo sich heute Politisches auslebt, sie werden es nicht anders charakterisieren können. Was tun die arbeitenden Menschen? Sie schließen sich zusammen zu einem Egoistenclub und kämpfen mit rechtlichen Mitteln für den eigenen Lohn – das ist die Gewerkschaft. Was tun die Kapitalisten? Sie tun sich zusammen mit anderen Egoisten und instrumentalisieren den Staat für ihren Gewinn - das ist die Lobby, in Berlin, in Brüssel. Und so steht Egoismus gegen Egoismus, statt Altruismus gegen Altruismus, wie es der Wirtschaftslogik entspräche. Egoismus steht dem Egoismus gegenüber, als würde man sich selbst ernähren, als würde nicht in Wahrheit der eine den anderen ernähren.

Verfolgen Sie das in die internationale Staatengemeinschaft hinein. Es ist eigentlich ein Hohn, von einer internationalen Staatengemeinschaft zu sprechen. Denn mit was haben wir es hier zu tun, was ist Außenpolitik, was geschieht auf den Gipfeln, was ist der Kern des politischen Geschäfts? Es ist die Anwaltschaft für den Egoistenclub zu Hause, es geht darum, dafür zu sorgen, dass in dem eigenen Staatsgebiet mehr hängen bleibt als in dem anderen, es geht darum, das Recht irgendwie wirtschaftlich geltend zu machen. So wird die Einkommensfrage scheinbar eine Rechtsfrage. Aber überlegen Sie mal, was das bedeutet, wenn das Recht einen wirtschaftlichen Wert bekommen soll, wenn die Staatsangehörigkeit einen Unterschied machen soll, ob einer dieses oder jenes Einkommen hat, wenn die staatliche Gewalt, die Polizei, das Militär in irgendeiner Art und Weise etwas damit zu tun haben soll, dass einer ein Einkommen hat. So ist es ja heute. Es ist tatsächlich so, dass ein großer Teil unseres Einkommens darauf beruht, dass wir deutsche Staatsbürger sind und nicht chinesische oder kenianische oder mexikanische. Wie ist das möglich, wie kann sich die Mitgliedschaft zu einer Rechtsgemeinschaft wirtschaftlich auswirken, einen Unterschied machen beim Konsum? Es ist ja nicht so, dass die Menschen in Mexiko, in China und so weiter weniger arbeiten als die Menschen in Deutschland, ganz im Gegenteil! Wie ist das also möglich? Nun, es muss zunächst in das Tauschverhältnis etwas hineinkommen, was mit dem Tausch als solchem nichts zu tun hat. Es muss neben dem Leisten und Gegenleisten irgendwie noch ins Gewicht fallen, dass der eine Bürger des Staates X ist, der andere aber Bürger des Staates Y, und es muss der eine mehr dafür hergeben, dass der andere Bürger des Staates X ist, als er geben würde, wenn der nicht Bürger dieses Staates wäre. Es müsste der Thailänder die Ware geben, und es müsste dieser Ware gegenüber stehen das Recht des Deutschen.

Sie haben vielleicht die Tagesthemen letzten Mittwoch gesehen? Da ging es darum, dass die Kleider für H&M in Kambodscha erarbeitet werden, von Frauen, und das jede dieser Frauen 14 Stunden am Tag arbeitet, und zwar für 20 Cent die Stunde. Das war in den Nachrichten, weil 300 Frauen bei der Arbeit umgefallen sind und ins Krankenhaus mussten, und da sah man einmal die Verschläge, in denen die Menschen hausen, die die Kleider für uns machen. Und was sagte der Sprecher von H&M dazu? Er sagte: wir halten uns an die Gesetze des jeweiligen Landes. Ja, natürlich, wenn das Recht des jeweiligen Landes so ist, dann ist es natürlich möglich, dass das meiste in Europa hängen bleibt. Dann wirkt sich das Recht selber wirtschaftlich aus. Das heisst aber sehr viel, das heisst, wenn man wirklich die Konsequenz zieht, dass ein solcher Staat, bei dem jetzt das Einkommen nicht nur ein wirtschaftlicher Vorgang, nicht nur ein reiner Leistungstausch sein soll, sondern auch eine Rechtsfrage, dass ein solcher Staat mit dem, was sein eigenes Element ist, mit der Gewalt, auf der internationalen Bühne in eine ganz bestimmten Richtung wirken muss. Ein solcher Staat hat nämlich ein notwendiges Interesse daran, dass ein Gefälle besteht zwischen dem eigenen und dem anderen Staatsgebiet in rechtlicher Hinsicht, er muss also dafür sorgen, dass die Menschen in dem anderen Staatsgebiet weniger Rechte haben als die in dem eigenen Staatsgebiet. Denn sonst würde die Rechnung ja nicht aufgehen, wenn die ganze Welt innerhalb des privilegierten Gebietes lebte, in dem das Recht selber einen wirtschaftlichen Wert hat, denn wenn alle drinnen sind, ist der Wert des Rechtes gleich null. Nein, das Einkommen kann nur dann eine Rechtsfrage sein, wenn der eine ein Recht hat, der andere aber nicht. Was müsste ein solcher Staat also tun? Nun, er müsste mit dem, was sein eigenes Element ist, nämlich mit der Gewalt, mit dem Militär, dafür sorgen, dass die Arbeit in dem anderen Staatsgebiet billiger ist als die Arbeit in dem eigenen Staatsgebiet. Das müsste er entweder selbst besorgen, oder er müsste Tyrannen unterstützen, welche die Arbeit in den Gebieten, die außerhalb des eigenen Staatsgebietes liegen, billiger machen. Mit den schlimmsten Tyrannen müsste er eine Art Symbiose bilden. Und er müsste natürlich die fruchtbarsten Gebiete dafür aussuchen. Wo haben wir zum Beispiel ein solches fruchtbares Gebiet? Im Osten, in China zum Beispiel. Ein solcher Staat müsste also ein Interesse daran haben, dass im Osten ein furchtbarer Staatsterrorismus entsteht, der es ermöglicht, dass die Menschen dort mehr exportieren, als sie importieren, weil die Menschen gezwungen werden können, für ihre Arbeit nicht das zu nehmen, was sie nehmen müssen. Das heisst aber, der Krieg wäre das Lebensprinzip dieses Staates. Selbst wo er nicht selbst Krieg führte, hätte er ein Interesse daran, dass verschiedene Volksgruppen miteinander in Krieg gerieten, müsste diese Kriege fördern, oder irgendeinen anderen Weg finden, um in anderen Gebieten Unrecht zu schaffen, und um das eigene Staatsgebiet müsste er einen Schutzschirm errichten, und er müsste um diesen Schutzschirm Wachen patrouillieren lassen, und er bräuchte selbstverständlich eine Einwanderungspolitik, die dafür sorgt, dass die Menschen draußen bleiben, dass sie nicht hineinkommen in das Gebiet, wo das Recht haben selber schon Einkommen schafft. Mit den Ländern in den Grenzgebieten, zum Beispiel mit Marokko, müsste er natürlich Verträge machen, damit diese die Ausgebeuteten erst gar nicht durch lassen in das privilegierte Staatsgebiet.

Es spielt aber noch etwas anderes hinein. Sehen wir zum Beispiel auf das Verhältnis zwischen Europa und Afrika. Was geht an Waren von Afrika nach Europa? Getreide, Spritpflanzen, verschiedene Metalle, Blumen, ganz viel Blumen, und so weiter. Was brauchen die Afrikaner von den Europäern? Wissen, Technologie, Produktionsmittel, Traktoren, Medizin, pharmazeutische Produkte und so weiter, also die Ideen Mitteleuropas, die Produkte der geistigen Arbeit. Es spielt also der Geist hinein in einer bestimmten Weise. Wie spielt der Geist hinein? Nun, zunächst entspringt der Geist einem ganz anderen Prozess als die Ware und das Recht. Das müssen wir einmal festhalten. Der Geist kommt ja weder daher, dass er irgendwie demokratisch beschlossen wurde, noch daher, dass einer irgendwo die Erde umgegraben hat. Sie können lange parlamentieren, sie können lange die Erde umgraben, wenn nicht wenigstens Einem von woanders her eine Idee kommt, wie man einen Traktor konstruieren kann, wird der Traktor nicht realisiert. Und wie kommt einer auf die Idee, woher nimmt er den Geist? Er muss sich selbst vertiefen in die Ideen anderer Menschen, er muss sich bilden. Und wenn Sie das zurückverfolgen, wenn Sie den Bildungsprozess zurückverfolgen, kommen Sie auch wieder zurück in die ganze Welt, aber auf ganz andere Art. Denn was haben wir real in den technischen Ideen, angefangen vom einfachsten, vom Rad, bis hin zu der kompliziertesten Maschine, die in die Wirtschaft eingreifen, die Zeit sparen und deshalb auch so wichtig sind für alle Menschen in jedem Land? Da haben wir das Produkt des geistigen Zusammenwirkens der ganzen Menschheit! Das ist das Produkt der geistigen Zusammenarbeit sämtlicher Völker dieser Erde! Da müssen wir zurückgehen ins antike Griechenland, da müssen wir nach Bagdad schauen, wie da unter dem Einfluss des Islam die moderne Naturwissenschaft entstehen kann, sie kann nämlich nur unter dem Einfluss des Islam entstehen, und wie das dann in Mitteleuropa fortgebildet wird von Menschen, die zunächst keine Ahnung haben von der Natur, aber dafür tief drinnen in den Klöstern die Kunst des Beweisführens ausbilden. Es ist das Produkt des geistigen Zusammenwirkens der Völker, es ist auch heute noch das Produkt des geistigen Zusammenwirkens der Völker, man gibt sich da nur gerne Illusionen hin.

Nun, und dieses Produkt des geistigen Zusammenwirkens der Völker, das wird jetzt besetzt von dem zur Staatsmacht ausgeweiteten persönlichen Egoismus, wird einem Staatsgebiet zugeordnet. Sehen Sie, Bosch zum Beispiel, deren Name auf vielen Produktionsmitteln steht, hält alleine 82.000 Rechte an 82.000 Ideen. Die Menschen, die diese Ideen gedacht haben, sind in der großen Mehrheit schon längst tot, die können nicht mehr bezahlt werden, die können nicht mehr denken und nicht mehr essen, aber Bosch kann diese Ideen in Rechnung stellen, weil sie das Recht an diesen Ideen haben. Die Afrikaner brauchen den Geist, und die Europäer stellen diesen Geist teuer in Rechnung, so teuer, dass die Afrikaner den Preis für den europäischen Geist nicht bezahlen können. Also müssen sie sich verschulden bei den Europäern, so hoch verschulden, dass die Europäer die Rechtsverhältnisse in den afrikanischen Ländern diktieren können. Und wie gestalten die Europäer die Rechtsverhältnisse in Afrika? Sie sorgen dafür, dass die Arbeit dort so unfassbar billig wird, dass die Menschen in Ländern wie Äthiopien oder Kenia für einen Euro Tagesgehalt arbeiten müssen. Äthiopien, sehr verehrte Anwesende, ist fruchtbar, auch Kenia, aber auf dem fruchtbaren Boden werden Rosen, werden Spritpflanzen gezüchtet von den Menschen dort für die Europäer, und die Europäer geben ihnen dafür einen Euro am Tag. Das Kilo Hirse kostet 1,30. In Kenia liegen in diesem Augenblick auf den Feldern der Kenianer bis zu drei viertel der Ernte und vergammeln, während die Menschen verhungern, weil sie nicht abtransportiert werden können. Sie können nicht weiterverarbeitet und nicht in die Weltwirtschaft eingefügt werden, können also keinen Preis erzielen, können den Wert nicht bekommen, der das Überleben der Kenianer sichern könnte, und zwar deshalb, weil keine Traktoren, keine Industrie, keine Technik da ist, und die ist deshalb nicht da, weil wenn sie da ist, sie in das europäische Staatsgebiet fällt, obwohl sie sich auf kenianischem Boden befindet. Da sitzen dann die Europäer drauf. In Ghana zum Beispiel, da gibt es genau eine Tomatenfabrik, und die gehört einem Italiener, das heisst, die Arbeit auf den Tomatenfeldern bleibt in Ghana, der Mehrwert durch den Anschluss an die Weltwirtschaft, durch die technische Idee, fällt auf Italien. Und das können Sie in der ganzen Welt als Prinzip, als das fundamentale Prinzip der Herrschaft erkennen: die staatliche Gewalt ergreift Besitz vom Geist, kapitalisiert den Geist für das eigene Staatsgebiet, und auf diesem Weg bleibt schließlich in dem eigenen Staatsgebiet mehr hängen als in dem anderen, denn dem anderen Staatsgebiet bleibt nur noch, der Bodenarbeiter, der Rohstofflieferant zu sein für das Staatsgebiet, das den Geist, die technische Idee, das Industriekapital besitzt.

Und jetzt haben wir ein vollständige Bild der sozialen Wirklichkeit heute. Von unten her kommt der Egoismus, aus den Gedärmen, aber weil der Mensch nicht wirtschaftlich denken kann, ergreift er das Herz, ergreift das Recht, und steigt weiter hinauf, erfasst dann, indem er dieses Herz abtötet, das Recht eigentlich abschafft, mit der pervertierten Staatsgewalt schließlich den Kopf, den Geist.

Es ist ein furchtbares Bild, das ich da vor Sie hinstellen musste, ein schreckliches Bild, das weiß Gott nicht geeignet ist, uns in eine feierliche Stimmung zu bringen. Wir sind nun aber heute hier zusammengekommen, um etwas zu feiern, wir wollen den 150 jährigen Geburtstag von Rudolf Steiner feiern. Und wir hätten wirklich keinen Grund, diesen Geburtstag zu feiern, wenn Rudolf Steiner jener abgehobene Esoteriker wäre, den manche zu kennen glauben. Nein, wir haben deshalb allen Grund, heute Rudolf Steiner zu gedenken, weil das, was ich Ihnen eben geschildert habe, die gegenwärtige Lage unserer Welt, aufs innigste verstrickt ist mit der Biografie, mit dem Leben, mit der Persönlichkeit Rudolf Steiners. Jene schweren Fragen, die in uns aufsteigen müssen, wenn wir mit sachlich-nüchternem Blick in die Welt hinaussehen, wenn wir bloß objektiv charakterisieren, was wir da draußen vorfinden, das sind nämlich die Lebensfragen dieses Rudolf Steiner, die ziehen sich wie ein roter Faden durch seine Biografie, durch all sein Schaffen hindurch. Diejenigen unter Ihnen, die Rudolf Steiners sozialwissenschaftliches Werk kennen, die wissen, dass das, was ich eben ausgeführt habe über die aktuelle Weltlage, identisch ist mit der Kritik, die Rudolf Steiner ab 1918 geübt hat, dass das zusammenfällt mit dem, was Rudolf Steiner als die Ursachen des 1. Weltkrieges beschrieben hatte, den Rudolf Steiner ja miterleben musste. Dieser 1.Weltkrieg, so Rudolf Steiner, war der erste moderne Krieg, der erste Krieg also, der sich als wirtschaftliche Notwendigkeit ergeben hatte, weil man plötzlich vor den Grenzen einer Weltwirtschaft, vor den realen Grenzen des Wachstums stand, weil die Welt eine Weltwirtschaft geworden war, aber man nicht weltwirtschaftlich denken konnte, sondern Nationalwirtschaft, Volkswirtschaft trieb an den Universitäten, und also das Staatsgebiet mit dem Wirtschaftsraum gleichsetzte, mit dem Staat irgendwie wirtschaften wollte, was dazu führte, dass sich Staaten gegenüberstanden nicht aus rein rechtlichen Motiven heraus, sondern wirtschaftliche Interessen vertraten, so dass sich, diametral entgegengesetzt zur Realität der weltweiten Arbeitsteilung, Volkswirtschaften feindlich gegenüberstanden. Diese Verstrickung von dem Recht mit der Ware beschreibt Rudolf Steiner bis ins Detail, bis in die feinsten Verästelungen hinein. Auf der anderen Seite beschreibt er, wie hinter diesen Staaten wiederum Volksmissionen, kulturelle Interessen stehen, und wie also der Staat sich auf der einen Seite mit der Wirtschaft verstrickt, auf der anderen Seite aber mit der Kultur, so das sich im Ergebnis Staaten gegenüberstehen, die ihr eigenes Mittel, das staatlich-rechtliche Element, also die Gewalt, in den Dienst der Wirtschaft innerhalb des eigenen Staatsgebietes stellen, wirtschaftliche Vorteile herausschinden wollen für das eigene Staatsgebiet, und wie dahinter wiederum kulturelle Interessen stehen, vermeintlich Volksmissionen, insbesondere bei England und Russland, die das ja unverhohlen aussprechen, aber auch in den Köpfen der Deutschen, denen eine eingebildete Weltaufgabe zu Kopf steigt. Bis ins Detail analysiert Rudolf Steiner in zahlreichen Schriften und Vorträgen die verschiednen Formen der Verstrickung der drei Lebensgebiete im Sozialen, also zwischen Rechtsleben, Wirtschaftsleben und Kulturleben, und die verschiedenen Konsequenzen, die sich daraus ergeben.

Dem stellt Rudolf Steiner die Idee einer sozialen Dreigliederung entgegen. Er gründet den Bund für soziale Dreigliederung und wendet sich zunächst an die Politik mit der Bitte, der Staat möge Wirtschaft und Kultur aus der staatlichen Verwaltung entlassen, der Staat möge, so nennt es Steiner, Wirtschaft und Kultur „abwerfen“. Denn, so Steiner, Wirtschaft, Kultur und Recht beruhen auf drei ganz verschiedenen zwischenmenschlichen Prozessen. Die Menschen arbeiten füreinander und konsumieren voneinander, dazwischen entsteht der Wert, der wirtschaftliche Wert. Etwas ganz anderes ist es, wenn ein Mensch fühlt: es ist Unrecht, dass der eine dem anderen auf den Kopf haut. Das entspringt nicht dem Leisten und Gegenleisten, sondern dem Rechtsgefühl, und dieses Rechtsgefühl ist weder selbst käuflich, wenn es Recht sein soll, noch kann es irgendwie als Leistung im Leistungstausch eingebracht werden, denn das wäre nur eine Täuschung, ein Scheinwert, denn wer für irgendein Recht eine Ware geben muss, der muss in Wahrheit eine „Zwangsschenkung“ erbringen, so Steiner. Als drittes schließlich wenden sich die Menschen in ihrem Erkenntnisstreben einander zu, von Angesicht zu Angesicht, von Individuum zu Individuum, um den Gedanken des anderen innerlich nachzubilden, und so bilden sich die Menschen, so entsteht das Kulturelle und Wissenschaftliche, das Geistesleben, wie Rudolf Steiner es nennt. Dieses Geistesleben hat seinen Ursprung nun weder in dem Leisten und Gegenleisten, noch in irgendeinem Rechtsbeschluss. Und so ist das soziale Leben in Wahrheit das Zusammenwirken von drei verschiedenen Prozessen. Und wenn der Mensch jetzt der Gesellschaft die bestmögliche Gestalt geben will, muss er die drei Prozesse, die der Gesellschaftsbildung zu Grunde liegen, in ihrem Ursprung ergreifen, und in der menschenwürdigsten Weise zusammenbringen. Heute, so Steiner, haben die Menschen kein Bewusstsein davon, wie sie in ihrem Zusammenleben durch drei Prozesse hindurch die Einheit bewirken, und zäumen daher das Pferd von hinten auf: sie wollen bei dem Endprodukt, bei der Einheit anfangen. Und dieses Anfangen-Wollen bei dem letzten, bei der Einheit, das ist eine Illusion, das bedeutet nur, dass die Menschen die Kontrolle über ihr Leben mehr und mehr verlieren. Und diese Illusion, die nennt Rudolf Steiner „Nationalstaat“. Wir sehen das ja heute wieder, wie die Menschen beim Staat anfangen wollen, der Staat soll ihnen ein Einkommen eben, der Staat soll die Spekulation in den Griff kriegen, der Staat soll die Bildung besorgen, der Staat, der Staat, der Staat. Durch dieses Hineinprojizieren der Verantwortung in den Staat kommt der Mensch aber laut Steiner immer tiefer in das Chaos hinein. Denn das Politische, so Steiner, ist ein „sekundäres Produkt“. Das Primäre, das ist das Leisten und Gegenleisten, dann das Rechtsgefühl, und schließlich das gegenseitige Verständnis. Da fängt das soziale Leben an, in drei verschiedenen Quellen hat es seinen Ursprung. Diesen drei Prozesse liegt aber jeweils eine ganz andere Logik zu Grunde, und diese Unterschiede müssten die Menschen durchschauen, um diejenigen Selbstverwaltungsorgane zu bilden, durch die der Mensch jeden der drei Bereiche ergreifen und so die drei Glieder des sozialen Lebens zusammenführen kann zu derjenigen Einheit, in welcher der Mensch in Würde leben kann.

Wo nimmt Rudolf Steiner diese Idee her? Nun, das ist jetzt außerordentlich interessant. Im Jahr 1918 schickt Rudolf Steiner an den späteren Reichskanzler Prinz Max von Baden ein Buch. Später zeigt sich Steiner enttäuscht, dass der Reichskanzler aus diesem Buch nicht die Notwendigkeit einer sozialen Dreigliederung geschlossen habe, nicht gesehen habe, dass aus diesem Buch hervorgehe, warum der Staat auf die Verwaltung von Wirtschaft und Kultur verzichten, warum der Staat, wie Steiner sich ausdrückt, Wirtschaft und Kultur „abwerfen“ müsse. Was steht in diesem Buch? Ja, das ist nun das Merkwürdige. Es steht kein einziges Wort von jener sozialen Dreigliederung, die Rudolf Steiner an anderer Stelle bis in die feinsten Details entwickelt. Was steht in dem Buch? Da steht das drinnen, was ich eben angerissen habe, die Geschichte des geistigen Zusammenwirkens der Völker. In einem breiten Panorama entwickelt Rudolf Steiner dort die Geschichte des geistigen Zusammenwirkens der Völker, und meint offenbar, daraus müsse man die dringende Notwendigkeit einer selbständigen Verwaltung der drei Lebensgebiete einsehen, man müsse sehen, dass aus dieser Geschichte des geistigen Zusammenwirkens folge, dass ein furchtbarer Krieg drohe, insbesondere zwischen Ost und West, der nur durch eine Dreigliederung des sozialen Lebens abgewendet werden könne.

Versuchen wir, das einmal nachzuvollziehen. In diesem Buch entwickelt Rudolf Steiner, wie der Mensch heute Eigenschaften hat, die er nicht immer hatte, sondern die von verschiedenen Völkern zu verschiedenen Zeiten vorgebildet wurden. Er schildert etwa, wie die Ägypter noch ganz im Seelischen waren, noch träumten, und wie sie keinen rechten Unterschied zwischen Diesseits und Jenseits machten, wie dann erst die Griechen den Tod fürchten, weil sie für das Diesseits aufwachen. Bei den Griechen kehrt sich das um, das Jenseits, in das sich die Ägypter gesehnt haben, ist für die Griechen der Hades. Die Griechen wenden sich dafür der äußeren Wirklichkeit zu und entwickeln die ersten Ansätze einer äußeren Wissenschaft. Aber die Griechen erleben ihre Seele zunächst noch als verwoben mit der Natur, sie leben in einer Götterwelt, trennen sich noch nicht ab von der Welt. Die Welt ist ihnen ein vielfältiges Chaos, sie steht ihnen noch nicht als eine Einheit gegenüber. Das schaffen erst die Juden, die Juden finden das „Ich Bin“, den Jahwe, die Einheit, und dadurch, so Steiner, sei erst die höhere spekulative Vernunft möglich geworden. Und so beschreibt Steiner, bis hinauf zu seiner Gegenwart, zu Engländern, Franzosen, Deutschen, wie der heutige Mensch Stück für Stück heraufgebildet wird, dadurch, dass über die Erde hin die Menschen verschiedene Eigenschaften ausbilden, bis zu seinem heutigen Selbstbewusstsein, bis zu dem Augenblick, da er sich dann mit Beginn des 16. Jahrhunderts im vollsten Sinn als ein Ich erlebt. Die Römer hatten das Ich ja schon vorgebildet, aber wenn Sie genau hinsehen, war der römische Bürger noch nicht das Individuum, der war noch die Sippe, erst im 16. Jahrhundert geht der Einzelne hin und sagt: Ich bin ein Mensch, ganz gleich, welchen Beruf ich habe, welchem Stand ich angehöre, und deshalb will ich nicht abhängig sein von einem Grundherren, und so weiter, und so gehen die Menschen in die Stadt, und hier entsteht erst das Gefühl, dass der andere eine Individualität ist, was auch das demokratische Bewusstsein in unserem heutigen Verständnis erst ermöglicht. So entwickelt Rudolf Steiner eine Kulturgeschichte, in der immer eine Eigenschaft, die heute jeder Mensch an sich hat, zunächst von einem Volk vorgebildet wird, und wie dieses Volk dann zu einem bestimmten Zeitpunkt der Erzieher der ganzen Menschheit wird. So wirken die Völker über die ganze Erde hin zusammen, um den Menschen zu seinem Ich zu tragen.

Aber wie wird das eine Volk zum Erzieher des anderen? Durch Gewalt. Die Griechen breiten sich mit Gewalt aus, und so nimmt die Menschheit das griechische Element an, die Römer breiten sich aus mit Gewalt, und so nimmt die Menschheit das römische Element an. Also, das jeweilige Volk wird einfach zum Erzieher der Menschheit dadurch, dass es das andere Volk in das eigene Verwaltungsgebiet einfügt und zwingt, die Lebensgewohnheiten des Eroberers anzunehmen. Aber auch das Umgekehrte geschieht, die Germanen lernen zum Beispiel vor allem dadurch, dass sie auf römischem Boden in die Lebensgewohnheiten der Römer hineinwachsen. Das Wesentliche ist aber, dass die eigentliche Bildung im Unbewussten geschieht, nicht über das bewusste Denken geht, nicht über die freie Anerkennung der Kultur des anderen, sondern durch das Ausleben der Instinkte erfolgt. Und so wird die Menschheit geführt, von einer tieferen, in ihren Instinkten liegenden Weisheit geführt bis zu dem Augenblick, da der vorläufige Höchststand der menschlichen Entwicklung erreicht ist, der Moment, da der Mensch sich in seiner ureigensten Tätigkeit ergreift, da er sich als ein Ich erlebt, und der Herrscher seiner selbst werden will. Dieses Ich-Bewusstsein hat dann aber allerdings einen hohen Preis. Es hat zur Folge, dass der Mensch sich isoliert erlebt, alleine in der Welt stehend, und sich jetzt abschneidet von dem, was vorher in seinen Instinkten gelebt hat. Jetzt kehrt sich alles um, von jetzt an gibt es nichts mehr, was in er Menschenwelt, in der Kulturwelt nicht unter Beteiligung dieses Ich hervorgebracht wird. Von jetzt an ist es Unsinn, zu behaupten, der Italiener habe als Italiener ein besonderes Rechtsbewusstsein, oder der Grieche als solcher einen besonderen Wissenschaftsgeist, denn von dem Augenblick, da der Mensch das eigene Ich erkennt, ist er auch abhängig von diesem Ich, das heisst, aller weiterer Kulturfortschritt ist jetzt ein individuell errungener, jetzt haben wir es mit Individualitäten zu tun in Italien, in Griechenland und wo auch immer, von denen der Fortschritt bewusst getragen wird, weil jetzt alles, so sagt es Steiner, was der Mensch geistig besitzt, durch seine bewusste geistige Tätigkeit hindurch muss.

So wird der Mensch also bis ins 16. Jahrhundert hinein von seinen Instinkten getragen, damit er aufwachen kann. Dann erwacht er aber. Und was sieht er jetzt vor sich, was steht ihm gegenüber? Der Staat! Und was ist dieser Staat? Dieser Staat, so Rudolf Steiner, ist der Rest der alten Eroberungsverhältnisse, der erstarrte Rest der Völkerbewegungen. Das sind die äußeren Spuren von Geistern, die andere Geister unterworfen haben. Steiner weist darauf hin, dass zum Beispiel das Karolinger Reich noch kein Staat ist in unserem heutigen Sinn, sondern bloß der Sippengeist, der andere unterworfen hat, ein reines Grundbesitzverhältnis. Was ist das Recht in diesem Staat, wo liegt die Gewalt, der Zwang? Bei dem König. Der Geist des Königs, das ist das Recht. Jetzt erwacht der Mensch aber zu seinem Ich, das heisst, er erlebt alles Geistige als abhängig von seinem bewussten Ich, es muss für ihn alles Geistige auch geistig errungen werden. Und weil der Mensch jetzt ein Ich ist, ist er gezwungen, diesen Staat umzugestalten. Wie muss er ihn umgestalten? So, dass er jetzt alles Geistige, alles Kulturelle aus diesem Staat hinauswirft. Das ergibt sich einfach mit Notwendigkeit aus der Tatsache, dass der Kulturfortschritt nicht mehr instinkthaft, nicht mehr unbewusst geschehen kann, dass der eine Mensch den anderen nicht mehr dadurch zu einem höheren Entwicklungsstand verhelfen kann, dass er Macht über ihn bekommt. Alles Geistige, alles, das irgendwie mit Bildung, Erziehung, Musik, Sprache, Kunst zu tun hat, das muss der Mensch jetzt aus dem Staat hinauswerfen, weil niemals irgendein Geistiges für den anderen einen Zwang bedeuten darf, wenn man den Fortschritt, und nicht den Rückschritt im Auge hat. Was bleibt dann übrig vom Staat? Das kann man sich fragen. Was bleibt übrig vom Staat, wenn der Mensch alles Geistige, alles Kulturelle aus diesem Staat hinauswirft?

Übrig bleibt der reine Rechtsstaat, das heisst, ein Staat, der die bloße Aussparung des Geistes ist, weil jeder Geist individuell ist, das heisst ein Staat, der gewissermaßen lauter Löcher hat, wie ein Schweizer Käse, und diese Löcher, das sind die individuellen Geister. Der Staat selber, seine Substanz, ist die Bewahrung dieser Individuellen Geister dadurch, dass es gerade seine Aufgabe ist, zu verhindern, dass der eine Geist für den anderen bindend werden kann. Also, der reine Rechtsstaat, das ist die Gewalt, die immer da eingreift, wo sich ein Geist mit der Gewalt verbinden will. Das heisst aber, nur wenn wir das Geistige ergreifen, und nach seiner eigenen Logik gestalten, dann bekommen wir auf der andere Seite tatsächlich eine Demokratie. Das ist erst der echte Demokratiebegriff. Das ist der Sinn von Menschenrecht, von Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und so weiter, aber man versteht die Demokratie heute nicht, man versteht nicht, was das ist, das Menschenrecht, vor dem alle gleich sind. Alle Menschen sind vor dem Recht gleich. Aber was heisst das denn, warum sind alle gleich? Weil jeder Mensch heute von seinem Ich aus schafft. Das heisst, alle Menschen sind dann gleich, wenn die Gewalt gerade nicht mehr gleich macht, sondern wenn jeder die Ideenwelt des anderen in Freiheit annehmen oder ablehnen kann.

Heute haben wir aber Gleichmacherei statt der Gleichheit. Heute sagen wir: der Staat ist christlich, oder: der Staat ist Deutsch. Wir sagen, die Türken sollen Deutsch lernen, und der Staat zwingt die Türken dazu, indem er ihre Rechte davon abhängig macht. Wir haben uns daran gewöhnt, und sagen es so daher: Die Türken sollen Deutsch lernen, als würde Kulturentwicklung heute noch dadurch bewirkt werden können, dass der eine oben ist und der andere unten. Für Rudolf Steiner ist das die Gegenkraft zur menschlichen Entwicklung, in Rudolf Steiners Mystik ist dieser Gedanke nicht ein menschlicher Gedanke, sondern das, was der Antichrist im Menschen denkt.

Warum? Nun, der Mensch wird durch das Zusammenwirken der Volksgeister über die Erde hin zu seinem Ich getragen. Das geschieht unbewusst, dass machen die Menschen nicht absichtlich, dass sie zum Beispiel die römischen Eigenschaften übernehmen. Dann ist es da, das Ich, dann erwacht der Mensch zu seinem Selbstbewusstsein. Aber wie ist das Ich da? Es ist leer. Da ist der Mensch frei, aber er ist alleine und leer, ist abgeschnitten von seinen Mitmenschen. Das ist aber nicht das Ende seiner Entwicklung, sondern das ist der Nullpunkt, durch den der Mensch hindurch muss! Es ist das reine Vermögen, sich von nun an selbst zu erziehen und den eigenen Platz in der Welt selbst zu bestimmen. Das ist nicht das Ende der menschlichen Entwicklung! Es darf nicht das Ende sein, denn hier ist der Mensch gestorben, hier findet er das Nichts, hier muss er mit Nietzsche rufen: Gott ist tot! Das ist das Schwere, jetzt in Tätigkeit zu kommen, aber der Mensch muss dann weiter in Tätigkeit kommen, muss an sich schaffen, denn alle weitere Entwicklung, jeder weitere Fortschritt hängt jetzt von dieser Selbstbetätigung, von der intimen Anstrengung des Ich ab. Und wie kann der Mensch das, wie kann er jetzt weiter kommen? Er muss von nun an übernehmen, was bis dahin die Volksgeister für ihn getan haben, muss die verschiedenen Volkskulturen zusammenklingen lassen, damit der Einzelne mehr sein kann als ein Deutscher, Türke, Jude, Russe oder Amerikaner, sondern zu seinem vollen Menschentum kommt, sich, so nennt es Rudolf Steiner, zu einem Vollmenschen entwickeln kann. Das heisst, der Mensch muss jetzt von seinem Ich her, über den Weg der bewussten Erkenntnis das schaffen, was vorher die Volksgeister geschafft haben, das heisst, er muss sich jetzt den anderen Volksgeistern aussetzen, muss die anderen Volksgeister in sich zur Wirksamkeit bringen, muss die Welt erleiden, wie ein Türke, muss die Natur erobern, wie ein Engländer, muss die Zukunft ersehenen, wie ein Russe. Er muss bewusst untertauchen in die andere Kultur, und muss diese Kultur in sich ausbilden, damit er jetzt, auf dem Weg der Erkenntnis, sich selber unter den Einfluss der Volksgeister bringt, und so die Einseitigkeit seiner nationalen Bestimmung überwindet.

Das heisst aber, jetzt muss er, weil er ein Ich ist, ein intimes Interesse daran haben, dass der andere Mensch, mit dem er innerhalb des selben Staatsgebietes lebt, die eigene Kultur zu ihrer vollen Blüte treiben kann, dass der Türke in Deutschland möglichst ungehindert die türkische Sprache ausbilden kann, dass türkische, russische, jüdische Schulen entstehen, dass es nirgendwo so etwas wie einen Kultusminister gibt, der das türkische Kind zur deutschen Sprache zwingen kann und die bewusste Ausbildung der Kultur der Eltern, in die das Kind ja hineingeboren ist, verhindern kann, das alles muss der Einzelne heute wollen, damit der Volksgeist nicht mehr im Blut leben muss, sondern heraufgeholt werden kann ins Bewusstsein für ein Leben im Geist, der türkische Volksgeist, der russische Volksgeist, der deutsche Volksgeist, die müssen da sein, zu denen muss jeder Einzelne in ein bewusstes, geistiges Verhältnis treten können, denn nur hier im Geist, wo der Mensch die Kultur als Begriff besitzt, statt von ihr bloß beherrscht zu werden, ist Freiheit möglich. Deshalb muss der freie Mensch die unbedingte Freiheit jedes anderen Menschen durchsetzen, damit jeder Mensch die Kultur des Volkes, mit der er blutsmäßig verbunden ist, nicht weiter über das Blut tragen muss, sondern jetzt bewusst ausbilden kann, sie zum Geist herauf heben kann, herausholen kann aus den Instinkten, damit die Menschen der verschiedenen Kulturen in ein ideelles Verhältnis kommen können, denn allein das ideelle Verhältnis macht frei. Zur Gewalt aber, sehr verehrte Anwesende, zur Gewalt kann der Mensch niemals in ein ideelles Verhältnis kommen!

Wie ist das möglich? Das ist nur wenn alles Demokratische, alles Mehrheitliche, alle Zwingende, also alles staatlich-rechtliche vollkommen getrennt ist von Erziehung, Bildung, Forschung, Kunst, Gesundheitswesen und so weiter. Rudolf Steiner versuchte mit der Anthroposphischen Gesellschaft und mit der Waldorfschule ja zu zeigen, wie das gehen könnte. Heute beachtet man zu wenig den Beispielcharakter dieser Einrichtungen, man beachtet nicht, dass Steiner nach eigenen Angaben damit das Denken unterstützen wollte, sich in eine bestimmte Richtung zu bewegen, nämlich in die Richtung eines freien, selbstverwalteten Geisteslebens. Was ist das denkbar, das freie Geistesleben? Was geschieht, wenn niemand mehr definiert, was ein Lehrer ist, wenn niemand definiert, was ein Professor ist, wenn niemand mehr definiert, was in der Schule zu geschehen hat, wenn niemand definiert, wo welche Sprache ausgebildet wird?

Versuchen wir einmal, uns das konkret vorzustellen. Da ist irgendwo ein Mensch, zu dem gehen andere Menschen, weil sie beeindruckt sind von seinen Fähigkeiten. Deshalb heisst er Lehrer. Keiner kann das definieren, dieser Mensch muss seine Schüler beeindrucken, und wenn er dann Lehrer ist, insofern andere von ihm lernen, ist er eben Lehrer. Und das hinauf bis in die Forschungsinstitute und hinunter bis in die Kindergärten. Da definiert überall der reale Bildungsfortschritt selber, wer welche Stellung hat. Das heisst konkret, der Einzelne wird nicht in eine vordefinierte Hierarchie hineingezwängt wird, sondern jetzt geht gerade umgekehrt alle Hierarchie vom Einzelnen aus, und alle Autorität leitet sich von der freien Anerkennung dieser Autorität durch das Individuum ab, sodass also nicht mehr irgendeine Rechtsvorschrift den Professor vor den Studenten setzt, und die zwei dann zusammen sind, die sich nicht gesucht haben und deshalb auch nicht finden können, sondern umgekehrt, der Professor gerade dadurch erst als „Professor“ definiert ist, dass Menschen aus freien Stücken zu ihm hingehen und von ihm lernen wollen. Das soll gerade die Definition von Professor, soll überhaupt die Definition von jeder Form der Autorität werden, nämlich die Anerkennung der Autorität durch die Menschen, denen der Lehrende seine Weisheiten angedeihen lassen will. Und wir können uns vorstellen, wie da jeder den anderen in einer Sachfrage zur Autorität macht, aus der Notwendigkeit heraus, etwas besser zu verstehen, und wie so jeder das Autoritätsverhältnis bildet und auch wieder auflöst, wie so etwas ganz Bewegliches entstehen kann, wie die vielfältigsten Zusammenhänge entstehen.

Dieser Gedanke ist schwer, und es kommen natürlich die schwerwiegendsten Einwände. Man sagt zum Beispiel: wenn es keine Schulpflicht gibt, und jeder machen kann, was er will, dann geht die Einheit des Bildungswesens verloren. Aber darüber muss man schon einmal genauer nachdenken. Die Einheit des Bildungswesens geht verloren, wenn jeder Mensch nur der Notwendigkeit seines Denkens folgt, wenn er ihr sogar folgen muss, weil er auf anderem Weg nicht zu irgendeinem Posten kommt? Die könnte ja nur verloren gehen, wenn jeder Mensch, wo er dem eigenen Denken folgt, eine andere Wirklichkeit vorfände, wenn es also in Wahrheit nichts Objektives gäbe. Dann, wenn real keine Einheit da ist, braucht es ein Bildungsministerium, das vereinheitlicht. Aber für einen wissenschaftlich denkenden Menschen ist es ja nicht einzusehen, wie die Norm helfen soll, wo die Wahrheit nicht von freien Geistern frei zugegeben werden kann. Die Freiheit ist gerade das Mittel, zur Einheit, aber zur objektiven Einheit vorzustoßen.

Und wenn Sie sich das deutlich machen, dass jeder nur dadurch auf seinem Posten gehalten wird, dass die Menschen, die mit ihm verbunden sind, denen er seine Fähigkeiten angedeihen lassen will, diese Fähigkeiten erleben, dann können Sie sicher ahnen, was nach Rudolf Steiner die Kernfrage eines solchen freien Geisteslebens ist: Das ist die Finanzierung. Kein Geist sollte sich mehr der Allgemeinheit über die Steuer aufzwingen dürfen, sondern sollte genötigt sein, sich wirtschaftlich von den Menschen abhängig zu machen, die ihn anerkennen. Das Geld, das wir heute als Steuer dem Staat geben, damit der es der Schule gibt und dafür definiert, was Schule ist, definiert, was ein Mensch zu tun hat, um dieses oder jenes später im Leben arbeiten zu dürfen, das sollte bei den Menschen bleiben, damit diese es frei dahin geben könnten, wo sie selbst die beste Verwendung dafür sehen, sodass also alles Geistesleben radikal dem individuellen Urteil unterworfen wäre. Geistesleben, das sollte das sein, was da entsteht, wo ein Mensch durch persönliche Erfahrung zu dem Urteil kommt, dieser da hat die Fähigkeiten, zu unterrichten, ihm will ich schenken, damit er nicht etwas anderes arbeiten muss, sondern eben Lehrer sein kann. Das ist der Begriff des Schenkgelds bei Rudolf Steiner. Das bis ins Finanzielle gehende Verständnis des Einzelnen sollte definieren, was ein Lehrer ist, so dass wir nicht da oben die Definition haben, und da unten der Einzelne zahlen muss, sondern das Zahlen und das Anerkennen, das sollte zusammenfallen, das sollte der selbe Prozess sein, damit sich das Kultur- und Geistesleben organisch bilden kann, damit sich jeder Geist nur über den Weg der bewussten Anerkennung verbreiten kann. Das ist das Qualitätsmanagement für die Bildung! Was sonst sollte Qualitätsmanagement sein? Dass man etwas da oben definiert, festschreibt, so dass dann das Vergangene das Zukünftige definiert? Das ist doch Käse! Das ist doch ein richtiger, zum Himmel stinkender Unsinn!

Auf anderem Gebiet können wir die Notwendigkeit der Freiheit leichter zugeben. Denken Sie, es würde sich nur derjenige als Arzt halten können, bei dem die Patienten das Erlebnis haben, sie werden gesund. Denken Sie, der Arzt wäre wirtschaftlich nicht abhängig von der Kassenverwaltung, sondern von den Patienten, denen er seine Kunst angedeihen lassen möchte, denken Sie, Sie würden Ihr Geld nicht erst der Kasse geben, damit die es dem Arzt gibt, sondern sie würden es selber dem Arzt geben. Was da an Qualität erreicht werden könnte! Am Beispiel des Arztes können wir das nachvollziehen. Wir sind nur wenig geneigt, die sonstigen Kulturaufgaben genau so ernst zu nehmen wie die Medizin, sonst würden wir sehen, dass dieses das einzig mögliche Qualitätsmanagement auch für die Bildung ist. Darum geht es. Wir sind heute nur noch nicht geneigt, die Versorgung unseres Geistes genau so ernst zu nehmen wie unsere medizinische Versorgung. Sonst würden wir endlich einmal ernsthaft die Frage nach dem Qualitätsmanagement für das Bildungswesen stellen. Und dann würden wir sehen: Es geschieht in Wahrheit nirgendwo ein Bildungsfortschritt ohne dass der Idee des Lehrers, ohne dass das Experiment, ohne dass die zu lernende Sprache von dem freien Willen des Kindes ergriffen und umgestaltet wird. Es muss der Mensch der Welt seinen freien Willen entgegenbringen, wenn er sich bilden soll, denn das Ich ist heute eine Realität. Anders geht es nicht, weil das Ich eine Realität ist! Wir tun aber so, als könnten wir heute noch auf Macht bauen, anstatt auf das Ich. Der Schüler geht zur Schule, weil der Lehrer die staatliche Gewalt hinter sich hat. Der Lehrer hat das Recht, den Schüler in das Leben hineinzulassen, ihm seinen zukünftigen Weg zu erlauben, oder nicht. Und der Schüler braucht das Recht. Was schreibt der Schüler also in der Klassenarbeit, wem ist das geschuldet? Das ist dem Wunsch geschuldet, vorwärts zukommen, das ist der staatlichen Gewalt geschuldet. Das ist nicht der eigenen Erkenntnis geschuldet, nicht dem eigenen Wahrheitsempfinden, sondern da mischt sich in den Erkenntnisprozess etwas hinein, was mit der Erkenntnis als solcher nichts zu tun hat. Was wird in diesem Augenblick gebildet? Ist das tatsächlich Bildung?

Das Ich ist eine Realität. Keine Kultur kann sich deshalb in Wahrheit anders entwickeln als durch den Willen, als durch die freie Anerkennung hindurch. Qualitätsmanagement heisst deshalb, dass wir gerade dafür sorgen, dass sich nur das verbreiten kann, was von dem Verständnis des Ichs, von dem Wahrheitsempfinden getragen ist. Denn überlegen Sie doch gründlich, was da in Wahrheit ausgebildet wird, wenn ein Mensch aus einem anderen Land nach Deutschland kommt und dann zu einem Deutschtest gezwungen wird? Ist die deutsche Sprache so wenig wert, dass sie den freien Willen nicht nötig hat? Kann sich so die deutsche Sprache erhalten? Was werden wir in 20 Jahren aus der deutschen Sprache gemacht haben, wenn wir diese Sprache nicht der freien Ausbildung, dem freien Willen unterstellen? Hat denn die deutsche Kultur tatsächlich so wenig Substanz, dass wir annehmen dürfen, sie könnte vom Staat verordnet werden? Natürlich, ich kenne die Einwände, ich kenne die Ängste. Aber auch das ist eine Illusion. Denn was erreichen wir in Wahrheit dadurch, dass der al-Qaida Terrorist die Bundesländer aufsagen kann und sich in Hamburg den Hochschulgesetzen fügen muss? Glauben Sie ernsthaft, der Terrorismus lässt sich durch einen Deutschtest aufhalten? Nein, ganz im Gegenteil, er kann dann am besten gedeihen, je weniger er mit dem Bewusstsein rechnen muss, je weniger der Islam sich zeigen darf und zu seiner edelsten Höhe kommen darf, je mehr Tests wir dem Ich in den Weg legen.

Bis zu seinem Ich haben den Menschen die Instinkte geführt. Über die ganze Erde hin haben die Volksinstinkte, haben die Nationalitäten für dieses Ich zusammen gewirkt. Jetzt ist es da, das Ich, jetzt muss der Mensch selber weiter arbeiten an dem, was er werden will. Das heisst aber: Jetzt muss er selbst eine Vorstellung haben, was der Mensch werden soll, muss sich ein Bildnis machen, wie Rudolf Steiner das nennt. Du sollst Dir kein Bildnis machen, so hiess es früher, das war das Gebot der Zeit, da die Völker sich bekriegten, da die Bildung im Unbewussten geschah. Heute, meint Rudolf Steiner, seit der Mensch sich als Ich erlebt, muss es heissen: Du sollst Dir unbedingt ein Bildnis machen, und zwar ein ganz genaues, wenn Du zu Deinem Vollmenschentum kommen willst! Wie geht das, wie kann der Mensch jetzt zu seinem Vollmenschentum kommen, wie kann er sich zu einem überpersönlichen, zu einem rein menschlichen Standpunkt erheben, wie kann er ein genaues Bildnis haben von dem, was die Menschen in Israel und die Menschen in Ägypten zu Brüdern und Schwestern macht? Wie kann das denn gehen? Das geht nur über den Weg des Bewusstseins, nur dadurch, dass wir uns nicht als Deutsche, Türken oder Russen gegenüberstehen, sondern uns als Menschen begegnen, so dass wir uns von Ich zu Ich miteinander verbinden, und jedes Ich die Freiheit hat, auszubilden, was es ausbilden möchte. Und das, was wir ausbilden, das bringen wir dann mit, das bringen wir, und dann opfern wir es. Wir feiern ein Opferfest, bei dem jeder Mensch dem anderen seinen Volksgeist opfert, bei dem jeder Mensch seine Nationalität überwindet, indem er sie opfert für das volle Menschentum seines Nächsten. Und das, sehr verehrte Anwesende, das ist in Rudolf Steiner Mystik der Christus. Das, was da entsteht, wenn der Mensch nicht vom Nationalen bestimmt ist, sondern in ein bloß ideelles Verhältnis zu seiner Nationalität kommt, einen bewussten Begriff dieser Nationalität willentlich hervorbringt, und diese Nationalität dann, so wie Steiner es nennt, zum Opfer bringt, das ist der Christusimpuls. Es gibt nur eine mögliche Definition von Christus, so Steiner, und die lautet: absolute Religionsfreiheit. Und so sehen wir, wie Rudolf Steiners Leben einen einzigen großen Gedanken spannt von seiner ersten bis zu seiner letzten Stunde, wie er sich zunächst in den deutschen Idealismus vertieft, dort den Begriff des Deutschen von den größten deutschen Geistern, von Fichte, Hegel und Goethe übernimmt, die ja sagten, der Deutsche ist als Deutscher nichts wert, sondern nur als Einzelner, wie er das übernimmt und sagt: die Deutschen können ihre Kultur nicht bewahren, sie können nur noch vorwärts kommen, wenn sie diese Kultur umgekehrt opfern, bloß dem freien Willen des anderen anheim geben, und selbst aufgehen in der Kultur des anderen. Rudolf Steiner gebraucht wirklich dieses Wort, er sagt, die Deutschen müssen „aufgehen“ in den Kulturen der Welt, wenn sie zum Guten wirken wollen. Und wir sehen, wie Rudolf Steiner dann das philosophische und wissenschaftliche Denken dieser freien Geister weiterbildet in seiner Philosophie der Freiheit, wie er da die Erkenntniskräfte erringt, mit denen er dann untertaucht in die Volkskulturen, und wie er daraus dann die Idee der Freiheit auch als sozialen Begriff entwickelt mit seiner Idee einer sozialen Dreigliederung.

Und jetzt schauen wir am Schluss auf uns, auf die Art, wie wir in Berlin zusammenleben. Da sind die Deutschen, da sind die Türken, da sind die Russen, da sind die Juden. So lebt die eine Kultur neben der anderen. Ich lebe seit fast 10 Jahren in Neukölln, und neulich, da ging eine amerikanische Touristengruppe neben mir her. Und ich hörte, wie die Touristenführerin sagte: das ist das Ghetto von Berlin, aber die Berliner finden das cool, die jungen Leute ziehen hierhin, weil sie das Bunte mögen. So ist das, es ist sehr unterhaltsam, dieses Multikulti. So leben wir nebeneinander her, wie Touristen, begaffen uns, und finden nicht zueinander. Aber das erzieht. Machen Sie sich das ganz klar. Das erzieht in der Art, wie früher die Menschheit erzogen wurde, unbewusst. Die Russen nehmen Eigenschaften der Juden an, die Juden die Eigenschaften der Russen, die Türken nehmen die Eigenschaften der Deutschen an, und die Deutschen nehmen die Eigenschaften der Türken an. Aber dagegen wehrt sich instinktiv der höhere Mensch, das Ich. Da fängt etwas an, zu kochen, da brodelt der Hass. Das können wir jetzt verstehen, wir können verstehen, woher der Völkerhass, woher auch der Rassenhass kommt. Denn so kann Bildung nicht mehr gehen in unserem Zeitalter. Heute muss alles durch das Ich hindurch, das geht nicht mehr aus Versehen.

Wir müssen also alles daran setzen, dass das türkische Kind nicht zur deutschen Sprache gezwungen wird, sondern die Freiheit bekommt, die Sprache seiner Eltern auszubilden, damit diese Kultur als eine bewusste Kultur da ist, in die wir bewusst eintauchen können, zu der jeder Mensch in ein ideelles Verhältnis kommen kann. Zur Gewalt kann der Mensch nicht in ein ideelles Verhältnis kommen! Und so müssen wir es auch mit der deutschen Sprache machen, und so mit allen Sprachen und Kulturen. Das wollen wir jetzt anfangen, mit der Initiative Interkulturelle Waldorfschule Berlin. Wovon hängt diese Interkulturelle Schule ab? Sie hängt davon ab, dass wir uns, so wie heute hier, frei begegnen, als Menschen, das keiner von uns ein Recht hat, aber jeder die Möglichkeit des Verständnisses, die Möglichkeit, den anderen für sich zur Autorität werden zu lassen, und die Möglichkeit, dem anderen zum Opfer bringen, was er seinerseits besonders gut kann. Dahinein, in eine echte Schenkkultur, bis ins Finanzielle hinein, müssen wir die Interkulturelle Schule stellen, denn Sie kann nicht von Deutschen, nicht von Türken oder Russen, sondern nur getragen werden von dem freien Verständnis der Menschen, die sie tragen und bilden wollen.

Lassen Sie mich zum Schluss bitte etwas vorlesen. Ich weiß, wie abstrakt das ist, wenn ich hier von anderen Kulturen rede, das ist ja das Problem. Aber ich habe selbst einen Versuch unternommen, aufzugehen in einer anderen Kultur, ich bin Deutschlehrer geworden in einer kleinen jüdisch-russischen Sonntagsschule, der Talmud Thora Schule, ehrenamtlich. Da unterrichte ich russisch-jüdischen Migranten Deutsch. Stück für Stück lerne ich dabei die Wahrheit dieser großartigen jüdischen Kultur verstehen. Aber dabei ist mir etwas sehr eigenartiges passiert. Ich wollte das Judentum tiefer verstehen, und wollte mich also in die jüdische Geheimwissenschaft einarbeiten. Sie wissen ja, in jeder Religion gibt es ja eine bewusstseinsmäßig durchdrungene Variante, da ist überall schon viel getan wurden durch die Jahrtausende hindurch, und im Judentum ist es der „Sohar“, ein kanonisches Werk. Nun, und sie wissen ja, wie eng die jüdische Geschichte verknüpft ist mit der Deutschen, man sollte also meinen, dass die Deutschen die jüdische Geheimwissenschaft kennen. Aber wissen Sie, was ich zu meinem Erstaunen festgestellt habe? Es existiert nur eine einzige Übersetzung der jüdischen Geheimwissenschaft ins Deutsche, und die stammt aus dem Jahr 1932. Die habe ich mir besorgt. Übersetzt hat sie ein Ernst Müller. Wer war dieser Ernst Müller? Ernst Müller war gläubiger Jude und Zionist. Das steht in dem Klappentext. Aber da steht noch was, nämlich ein Zitat von Ernst Müller, in dem er darauf hinweist, wie es zu der Übersetzung der jüdischen Geheimwissenschaft ins Deutsche gekommen ist. Ich lese vor: „Gerne gedenke ich jeder Anregung, die mir bei dem Versuche zuteil ward, in eine dem gegenwärtigen europäischen und auch dem gegenwärtigen jüdischen Geistesleben noch fremd erscheinende Geistessphäre tiefer einzudringen. Dankbaren Herzens nenne ich insbesondere Rudolf Steiner, der mich zuerst auf die verborgene Tatsache weltumfassender okkulter Wissenschaft gewiesen hat ...“

Ich möchte Ihnen zum Abschluss aus der jüdischen Geheimwissenschaft vorlesen. Ich lese einen Abschnitt, da spricht ein Rabbiner zu einem Schüler, es muss ungefähr im 13. Jahrhundert gewesen sein, über Erkenntnis der Welt:

„Man nehme ein Gleichnis von einem Menschen, der zwischen den Bergen seinen Wohnsitz hat und nichts weiß von dem Wohnen in der Stadt. Ein solcher Mensch sät Weizen und isst die Weizenkörner als solche. Eines Tages kam er in die Stadt, da brachte man ihm feines Brot. Er fragte, wozu das diene, man sagte ihm: zum Essen. Nachdem er es gegessen und es ihm wohlgeschmeckt hatte, fragte er: Woraus ist das gemacht? Man sagte ihm: aus Weizen. Ein anderesmal brachte man ihm in Öl gebackene Kuchen. Er kostete und fragte: woraus ist dies gemacht? Man sagte ihm: Aus Weizen. Dann brachte man ihm königliche Fladen, in Honig und in Öl gebacken. Er fragte: Und woraus ist dies gemacht? Man sagte ihm: Aus Weizen. Da rief er aus: dann bin ich der Herr von all diesem, da ich den eigentlichen Inhalt all dieser Speisen, den Weizen, selber esse. Mit dieser Meinung wusste er aber nichts von den Freuden der Welt, die gingen ihm verloren. So ist derjenige, der das Allgemeine aufnimmt und all die einzelnen Freuden gar nicht kennt, die aus diesem Allgemeinen stammen.“

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